Der letzte Tanz im Paradies. Jürgen Petschull
um den kleinen Hals gewickelt. Das Baby drohte zu ersticken. Mir blieb nur eines: Ich musste versuchen, das Kind mit meinen Händen im Mutterleib zu wenden und von der Nabelschnur zu befreien ...«
Olga Tietjen, die Kapitänsfrau und dreifache Mutter, seufzt unterdrückt.
»Schließlich habe ich es geschafft – gegen den körperlichen Widerstand der werdenden Mutter. Elisabeth schrie, ich wolle das Kind und sie umbringen! Sie wehrte sich mit Händen und Füßen gegen meine Arbeit. Sie presste nicht. Mein Kampf um das Leben des Kindes hat deshalb unnötig lange gedauert ...«
»Und was hat der Vater gemacht?«, fragt Sebastian Kleine.
»Mein Halbbruder Christian ist schon zu Beginn aus dem Zimmer gelaufen – er habe für uns gebetet, hat er nachher gesagt.«
Olga Tietjen bittet Theobald Kolber, eine zweite Flasche Wein zu öffnen.
»Hat das Kind überlebt?«
»Ja«, sagt Anna Scharnhorst. »Aber das Aussehen des Neugeborenen hat mich erschreckt. Der Knabe war am ganzen Körper bläulich angelaufen. Er zitterte unaufhörlich. Eine Mund-zu-Mund-Beatmung und eine Herzmassage halfen zunächst nicht. Es dauerte lange, bis er regelmäßig atmete, doch danach blieb der kleine Körper beinahe regungslos. Das Gesicht war merkwürdig schief. Mir wurde klar, dass etwas Furchtbares passiert war: Der Sohn meines Bruders und meiner Schwägerin hatte durch die Strangulation mit der Nabelschnur einen Sauerstoffmangel erlitten. Die Folge davon sind bleibende körperliche und geistige Schädigungen. Der Junge, der auf den Namen Markus getauft wurde, ist ein Spastiker. Er wird nie ein einigermaßen normales Leben führen können.
Die Kinderärzte haben später versichert, ich hätte keine Fehler gemacht, es sei eine Verkettung unglücklicher Umstände gewesen. Meine Schwägerin verbreitete dennoch bei jeder Gelegenheit, ich sei schuld am Schicksal ihres Kindes. Mein Bruder, der Pastor, und meine fromme, protestantische Mutter standen mir gegen diese schlimme Nachrede nicht bei ...
Seit der Entbindung des kleinen Markus war ich nicht mehr in der Lage, meinen Beruf als Hebamme auszuüben. Ich verfiel in Schwermut und wollte mir das Leben nehmen. Ein Versuch mit Barbiturat schlug fehl, weil ich mich erbrechen musste.
Meine Mutter war seit diesem Ereignis noch eigenartiger geworden. Sie beachtete mich kaum noch. Nur Gott könne mir helfen, sagte sie, doch ich müsse mir seine Gnade verdienen. Vielleicht werde er mir ein Zeichen geben. Ich müsse um dieses Zeichen beten, es erkennen und richtig deuten.
Von nun an betete ich oft alleine in einer halbdunklen Nische unserer Kirche. Eines Abends öffnete sich dabei knarrend die schwere Haupttür. Ein Mann und eine Frau kamen herein. Sie konnten mich nicht sehen, aber ich beobachtete, wie sie ein Schriftstück an der Innenseite der großen Tür anbrachten. Nach meinem Gebet las ich die Mitteilung, die diese Besucher zurücklassen hatten: Die Rheinische Missionsgesellschaft bat um Geld und um Sachspenden und warb um neue Mitarbeiter für die Arbeit in ihren überseeischen Missionsstationen. Insbesondere wurden junge Männer und Frauen aus medizinischen Berufen gesucht. Für mich war sogleich klar: Dies war eine Botschaft für mich, das Zeichen, um das ich gebetet hatte ...
Gleich am nächsten Morgen suchte ich einen der Missionare auf, der im Gästezimmer unseres Pfarrhauses übernachtet hatte. Ich vertraute ihm meine Geschichte an. Und danach erklärte er mir: Die Arbeit für Gott und die Kirche, insbesondere eine Tätigkeit in einer überseeischen Mission, werde ein Ausweg aus meiner Lage sein, ein Weg, der mich zu einem erfüllten, christlichen Leben führen werde. Im Übrigen habe man für eine ausgebildete Hebamme wie mich in der praktischen Missionsarbeit sehr gute Verwendung.
Meine Mutter war glücklich, als ich ihr meinen Entschluss mitteilte, nach einer Ausbildung zur Diakonisse und Missionsschwester in eine der Missionsstationen der evangelischen Kirche des Rheinlandes zu gehen. Zum ersten Mal seit langer Zeit nahm sie mich in den Arm. Die Aussicht auf eine Tätigkeit in einer christlichen Mission irgendwo in einer anderen Welt erschien mir tatsächlich wie eine Erlösung aus meiner Situation. Zugleich, so dachte ich auch, komme ich dadurch weit weg von meiner Familie und von dem behinderten Jungen, dessen Anblick ich nicht ertragen konnte.«
Während sie spricht, blickt Anna Scharnhorst in die Gesichter ihrer Zuhörer, nur an schwierigen Stellen, an denen ihre Gefühle sie beinahe überwältigen, wandert ihr Blick durch das Bullauge hinaus aufs Meer, über dem sich der Himmel während ihrer Erzählung abendrot, dunkelblau und schließlich nachtschwarz färbt.
Er müsse erst mal ein Pfeifchen rauchen, sagt Theobald Kolber nach Annas Geschichte, und weil das hier am Tisch von den Damen wohl nicht erwünscht sei, werde er sich kurz an Deck begeben.
Nach seiner Rückkehr wendet er sich an Anna Scharnhorst.
»Ihre Geschichte hat mich sehr bewegt. Wann immer mein junger Freund und ich Ihnen helfen können – wir werden für Sie da sein, wenn Sie uns brauchen.«
»Darauf stoßen wir an!« Die Kapitänsfrau schenkt Wein nach. Sebastian Kleine sagt: »Wissen Sie schon, in welcher Missionsstation, an welchem Ort oder in welcher Gegend Sie erwartet werden? Und was wird dort Ihre Aufgabe sein?«
Anna errötet, als sei diese Frage zu intim.
»Ich weiß nicht, ob ich ...«
»Nun sagen Sie den netten beiden Herren doch ruhig, was Sie mir erzählt haben!« Olga Tietjen stößt sie aufmunternd an. »Die Herren werden es ja ohnehin erfahren, wenn Sie bald heiraten.«
Theobald Kolber und Sebastian Kleine sehen Anna Scharnhorst und Olga Tietjen verblüfft an.
»Oh, das ist mir jetzt so rausgerutscht. Der Wein ... ich rede wohl zu viel«, sagt die Frau des Kapitäns.
Anna steht auf. Einen Moment lang scheint es, als ob sie hinauslaufen will, doch dann hält sie Theobald Kolber ihr leeres Weinglas hin.
»Wenn Sie den zweiten Teil meiner Geschichte auch noch hören wollen ...«
»Offenbar ist er ja nicht so traurig wie das, was wir bisher gehört haben.« Theobald Kolber lächelt.
»Ganz und gar nicht, aber sehr ungewöhnlich ist diese Geschichte auch«, sagt Olga Tietjen.
»Nach meiner Ausbildung bin ich zum Leiter unseres Mutterhauses gerufen worden. Er hat mich sehr gelobt und dann gefragt, ob ich vielleicht Interesse an einer Briefpartnerschaft hätte: Ein im Urwald von Neuguinea tätiger Missionar habe den Wunsch, sich mit einer christlichen jungen Frau aus seiner deutschen Heimat zu schreiben. Seine Frau sei vor zwei Jahren an Malaria gestorben. Er würde sich über ein wenig Abwechslung bei seiner aufopferungsvollen, aber einsamen Arbeit freuen. Der fragliche Missionar komme aus Duisburg, und da ich ja auch vom Niederrhein stamme, habe man in der Leitung der Missionsschule an mich gedacht.«
Seither hätten sie ein halbes Dutzend lange Briefe miteinander gewechselt. Sie hätten auch Fotografien ausgetauscht.
»Vor einem halben Jahr hat Heinrich mir dann einen Heiratsantrag gemacht, und einen Verlobungsring hat er gleich mitgeschickt.«
Anna Scharnhorst legt ihre linke Hand auf den Tisch, an der jetzt ein schmaler, mattgoldener Ring mit einem kleinen Kreuz aus rotem Edelstein schimmert.
Sebastian Kleine hat diesen Ring vorher noch nie bemerkt. Er schluckt ein paarmal. Theobald Kolber schüttelt den Kopf.
»Haben Sie sich das auch wirklich gut überlegt, junge Frau? Sie kennen den Mann doch gar nicht. Sie haben ihren Künftigen noch kein einziges Mal gesehen. Vielleicht ist auf beiden Seiten durch die Briefe nur eine Illusion aufgebaut worden, die der Realität nicht standhalten kann.«
Er spürt einen kräftigen Fußtritt unter dem Tisch. Kapitänsfrau Tietjen sieht ihn strafend an.
»Ja, so gut ich es kann, habe ich alles Für und Wider abgewogen!«, sagt Anna.
Theobald Kolber reibt sich sein schmerzendes Schienbein.
»Wie heißt denn der Glückliche, vielleicht ist er mir ja schon mal über den Weg gelaufen?
»Althoff, Heinrich Althoff.«
Anna