Der letzte Tanz im Paradies. Jürgen Petschull

Der letzte Tanz im Paradies - Jürgen Petschull


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und auch wütend. Ich wurde so jähzornig, wie es bei meiner rotblonden Haarfarbe zu erwarten war. Und weil ich ein wenig stärker als mein zehn Minuten älterer Bruder gewesen bin, habe ich bei unseren Prügeleien meistens obsiegt. Wilhelm lief dann heulend nach Hause. Dafür hat mein Vater mich dann geschlagen. Es setzte Ohrfeigen und Prügelstrafen mit dem Ledergürtel auf das nackte Hinterteil. Mein Bruder stand als Zeuge und als Opfer daneben. Er hat gelacht, wenn ich vor Schmerzen schrie. Da habe ich ihn gehasst.

      Meine Gefühle änderten sich erst, als wir das Gymnasium in Stade besuchten und bei Verwandten in dieser kleinen Fachwerkstadt wohnten. Mit zunehmender Bildung und mit meinem wachsenden Interesse an Menschen, an der Natur, an fremden Völkern und Ländern wurde mir klar: Mir steht die Welt offen – meinem Bruder Wilhelm nicht. Ich würde mir einen Beruf aussuchen können, der meinen Neigungen entsprach – er musste das Erbe antreten und weiter in der begrenzten, wenn auch schönen kleinen Welt an der Oste leben. Fortan beneidete ich meinen Zwillingsbruder nicht mehr, ja, ich fühlte ich mich ihm sogar überlegen.

      Da mein Vater Wilhelm zu seinem Alleinerben ernannt hatte, finanzierte er mir ein Jurastudium in Hamburg, damit ich auf eigenen Beinen stehen konnte. Danach beschloss ich, eine Karriere bei der Polizei anzustreben. Ich wurde Kommissar-Anwärter und war zwei Jahre lang bei der neu gegründeten Criminalpolizei im Vorort St. Pauli tätig. Dies war eine doch eher anspruchslose und langweiligere Tätigkeit, als ich mir vorgestellt hatte, denn überwiegend war ich als jüngster Mann der Abteilung mit der Aufklärung von nicht besonders aufregenden Diebstahls- und Betrugsdelikten befasst.

      Von Kindheit an haben mich fremde Länder und Völker interessiert. Deshalb habe ich mich seit meiner Schulzeit, neben dem Studium und später auch neben der Polizeiarbeit, stets intensiv mit Geografie und Ethnologie beschäftigt. Besonders die noch weitgehend unerforschten Inseln und Völker im südlichen Pazifik haben mich fasziniert, seitdem ich die Aufzeichnungen des großen deutschen Entdeckers Georg Forster gelesen hatte, der diesen Teil der Welt mit dem berühmten britischen Kapitän James Cook bereist und erforscht hat.

      Auf Empfehlung eines in der Hamburger Geschäftswelt tätigen Onkels habe ich mich bei dem bekannten Handelshaus Godeffroy & Sohn beworben, als Mitarbeiter des zu diesem Hause gehörenden Museums. Zu meiner Überraschung hat mich Herr Johan Cesar Godeffroy senior persönlich in seinem Kontorhaus empfangen und mich nach einem anregenden Gedankenaustausch tatsächlich engagiert. Offenbar hatten mein Wissen über die Südsee sowie meine frühere Tätigkeit bei der Polizei einen entsprechend positiven Eindruck hinterlassen. Meinerseits war ich von der Freundlichkeit und Souveränität des berühmten Mannes äußerst beeindruckt. Als Herr Godeffroy mich fragte, ob ich mir vorstellen könnte, nach einer mehrmonatigen Einführung durch Museumskustos Doktor Schmalz für sein Haus als Sammler und Forscher in der Südsee zu arbeiten, hatte ich Mühe, meine Begeisterung zu zügeln.

      Am Abend des 2. März, also gestern, sollte ich mich an Bord des Windjammers Emily Godeffroy an den Hamburger Landungsbrücken einfinden, dessen Abreise für den heutigen Donnerstag vorgesehen war.

      Ich war natürlich zur fraglichen Zeit da und kontrollierte sorgfältig mein Gepäck, das kurz nach mir von einigen starken Männern der Firma Godeffroy an Bord geschleppt wurde. Außer meinen Privatsachen besteht es aus drei Kisten mit zahlreichen Fachbüchern in deutscher und englischer Sprache über Pflanzen- und Tiervorkommen auf den Inseln des Pazifik. Auf meiner Inventarliste, die ich gemeinsam mit Museumskustos Schmalz zusammengestellt habe, stehen unter anderem: Chinintabletten gegen Malaria, zwei Lupen, ein Mikroskop, sechs Insektenkästen, ein Dutzend Blechkanister mit Spiritus zum Konservieren, 20 Pfund Gips, zehn Pfund diverse Pulver, zwei Kistchen Gift, Glaskäfige für lebendige Schlangen und Echsen, einhundert Gläser für Pflanzen und Getier, drei Fässer Salz und nicht zuletzt eine Fotografieausrüstung mit einer modernen Voigtländer Plattenkamera, deren Handhabung ich bei einem Hamburger Fotografenmeister erlernt hatte. Meine Ausrüstung wurde unter meiner Aufsicht sorgfältig in einem kleinen Lagerraum neben meiner Kajüte verstaut.

      Diese Kajüte im Heck, gleich neben den Kabinen der Schiffsoffiziere, ist klein, aber recht komfortabel. Es gibt eine Koje, fest eingebaute Schränke und Regale und eine ausklappbare Schreibplatte unter einem Bullauge, an dem ich nun sitze und diese Niederschrift im Schein einer Messingöllampe anfertige.

      Wie die anderen Passagiere auch war ich heute bei Tagesanbruch auf den Beinen, um das Ablegen der Emily Godeffroy zu erleben. Und ich war außerordentlich überrascht, als ich in die Kapitänssuite zu einem folgenreichen Gespräch mit Herrn Godeffroy und Herrn Theobald Kolber gerufen wurde.

      Von Herrn Kolber und seiner Arbeit hatte ich bereits viel Gutes und auch Abenteuerliches gehört. Ich wusste, dass er der Generalbevollmächtigte des Hauses Godeffroy für den gesamten Südseeraum ist, also einer der wichtigsten Leitenden Mitarbeiter meiner Firma. Einige Tage vor der Abreise hatte Herr Godeffroy mir erklärt, Herr Kolber sei während meiner Tätigkeit in der Südsee mein direkter Vorgesetzter, dem ich regelmäßig über meine Arbeit Rechenschaft abzulegen hätte. Ich würde Herrn Kolber erst an Bord der Emily Godeffroy kennenlernen, vorher habe er aus geschäftlichen und privaten Gründen leider keine Zeit zu einem Gespräch.

      Nachdem ich nun ein wenig nervös den Niedergang am Heck des Schiffes zur Kapitänssuite hinuntergestiegen war, erkannte ich zu meinem Erstaunen, dass ich Herrn Theobald Kolber bereits begegnet war: Der freundliche Mann mit dem Vollbart und der Pfeife, der neben mir an Deck gewesen war, stand nun neben Herrn Godeffroy, drückte mir kräftig die Hand, zwinkerte mir zu und sagte, wir beide hätten uns ja lange nicht gesehen ...

      Sebastian Kleine sieht erstaunt, wie der große, breitschultrige Theobald Kolber den schmächtigen Johan Cesar Godeffroy bei der Begrüßung in der Kapitänskajüte herzhaft an sich drückt.

      »Das freut mich nun aber wirklich, dass du uns noch persönlich verabschieden willst«, sagt Kolber mit belegter Raucherstimme, offensichtlich gerührt. Ein Gefühl, das nicht recht zu diesem harten Mann passen will. Mit seinem vom Leben und von der Südsee-Sonne zerfurchten Gesicht, mit graubraunem Vollbart und grob gestricktem Norwegerpullover wirkt er wie ein abgewetterter Seemann – ganz im Gegensatz zu Godeffroy, der in seinem grauen Kontoranzug und hinter dicker Brille den blassen Büromenschen verkörpert.

      Sebastian Kleine blickt diskret zur Seite und betrachtet die komfortable Kapitänssuite.

      Wenn da nicht das sanfte Schaukeln des großen Schiffes am Anleger wäre, könnte man glauben, in einem holzgetäfelten Herrensalon an der Hamburger Alster zu sein, im Überseeclub, in einem der feinen Rudervereine oder in der Vereinigung Ehrbarer Kaufleute. Die im Heck gelegene Unterkunft des Kapitäns hat die Ausmaße und Ausstattung einer kleinen Suite im Hotel Atlantic, in der Kleine einmal mit seinen Eltern bei einem Hamburg-Besuch übernachtet hatte. Die Kapitänskajüte ist etwa dreißig Quadratmeter groß, mit einem ausladenden Ess- und Arbeitstisch für zehn oder zwölf Leute in der Mitte, mit grün gepolsterten Sitzbänken, mit Einbauschränken und Bücherregalen aus Mahagoni und Decken- und Wandlampen aus poliertem Messing. Ein großer Facettenspiegel und goldgerahmte Schiffsbilder sind an die hell getäfelten Wände geschraubt. In einem großen, reich verzierten Gusseisenkamin mit geöffneten Türen qualmen noch vom Vorabend ein paar verkohlte Holzscheite.

      »Wir haben so einen ähnlichen Kamin in unser Haus in Övelgönne einbauen lassen, der heizt wunderbar«, erklärt der Kapitän, bevor er sich zurückzieht und mit stampfenden Schritten die steile Treppe zur Brücke hinaufgeht.

      Auf der mit grünem Leder ausgelegten Platte des großen Tisches dampft kräftiger schwarzer Kaffee in drei Porzellanpötten mit britischen Hafenmotiven.

      »Vorsicht, der ist verdammt heiß«, sagt Theobald Kolber und leckt sich die verbrannte Unterlippe.

      Godeffroy erklärt Theobald Kolber, warum er »diesen hoffnungsvollen jungen Mann hier« zu dem Gespräch hinzuziehen wolle. »Ich habe dir ja erzählt, dass Herr Kleine ein ausgebildeter Detektiv ist, ein ausgesprochen begabter und engagierter Mann, wie mir der Polizeipräsident persönlich versichert hat, und so einen Ermittler brauchen wir für den Fall, den ich jetzt erörtern möchte.« Seine Miene und seine Stimme werden ernst, als er fortfährt: »Was ich jetzt sagen werde, ist höchst vertraulich, denn möglicherweise steht dabei eine ganze Menge auf


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