Der letzte Tanz im Paradies. Jürgen Petschull

Der letzte Tanz im Paradies - Jürgen Petschull


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und bei guter Sicht geht der Blick von hier aus viele Kilometer weit den Elbstrom hinunter. Jetzt sieht man zur Rechten nur noch die Silhouette der Stadt. Hier riecht es bei Ebbe nach schlammigem Binnengewässer und bei Flut schon nach salzigem Meer und weiter Welt.

      Als Junge und noch als junger Mann hat Godeffroy hier seine Träume geträumt. Damals wäre er selber gern zur See gefahren, als Kapitän auf einem schnellen Windjammer. Später wollte er als Entdecker und Forscher Abenteuer in fernen Welten erleben. Der Portugiese Ferdinand Magellan, der Spanier Christopher Columbus und die Deutschen Georg Forster und Alexander von Humboldt waren seine Idole. Aber die Traditionspflicht seiner Familie und eine frühe, starke Kurzsichtigkeit haben ihn in der Heimat zurückgehalten. So ist er nur ein reicher Mann geworden – einer, der sich ein exotisches Museum und eine anspruchsvolle Zeitschrift leistet und der auf seine Kosten andere all jene Abenteuer erleben lässt, die ihm selber verwehrt geblieben sind.

      Godeffroy wischt seine dicken Brillengläser blank. Durch den grauweißen Schneeschleier hindurch erkennt er schemenhaft den abgetakelten Viermaster, der den Namen seiner Frau trägt. Die Emily Godeffroy liegt an den Landungsbrücken unterhalb des Stintfangs, eines Geestrückens am Elbufer.

      Dort drüben hatte am frühen Nachmittag der große Frachtsegler festgemacht, mit 2000 Tonnen Kopra und ein paar Dutzend Kisten für das Godeffroy-Museum an Bord. Und mit dem Totenkopf von Sebastian Kleine.

      Gewiss, im Laufe der Jahre sind mehr als ein Dutzend Mitarbeiter von Godeffroy & Sohn auf den Inseln des Pazifik umgekommen, durch Tropenkrankheiten die meisten, einige durch Unfälle, zwei oder drei durch mörderische Überfälle von wilden Eingeborenen. Aber so ein Ende wie Sebastian Kleine hat noch keiner genommen.

      Wie zum Gebet verschränkt Godeffroy seine kalten Hände vor seinem Gehrock. Unbeweglich starrt er in das Schneetreiben, das stetig dichter wird und sich wie ein Vorhang vor der Kulisse des Hafens und der Stadt zusammenzieht.

      »Herr Godeffroy!«

      Erschrocken dreht sich Godeffroy um. Im Schneetreiben erkennt er Doktor Schmalz.

      »Hatte ich Sie nicht gebeten, mich in Ruhe zu lassen?«

      »Entschuldigen Sie, aber ich hatte vorhin keine Gelegenheit, Ihnen das hier zu geben. Es könnte wichtig sein ...«

      Schmalz reicht Godeffroy ein in braunes Wachspapier eingeschlagenes und verschnürtes Päckchen.

      »Was ist das?«

      »Das Tagebuch von Sebastian Kleine. In einem Brief an mich hat er darum gebeten, es Ihnen verschlossen zu übergeben.«

      »Wo haben Sie das denn her, Doktor Schmalz?« Der Museumskustos zögert. Die Antwort scheint ihm nicht leichtzufallen.

      »Das wurde uns bereits vor einigen Wochen von einem Arzt aus Bremen zugestellt, einem Bekannten von Sebastian Kleine, der aus Deutsch-Neuguinea zurückgekommen war. Die Sendung war an das Museum Godeffroy adressiert, und ich wollte das Büchlein bei Gelegenheit einmal lesen, leider habe ich bisher keine Zeit gefunden. Aber nach der Entdeckung von heute Abend habe ich endlich einen Blick hineingeworfen. Es hat ja nun möglicherweise eine besondere Bedeutung erlangt, vor allem weil ...« Schmalz stockt.

      »Was ist denn noch Besonderes?«

      »Besonders weil er es gewissermaßen Ihnen persönlich gewidmet hat, wie ich auf den ersten Seiten gelesen habe.«

      Godeffroy sieht Schmalz erstaunt an. Dann nimmt er das kleine Paket entgegen und steckt es in seine Manteltasche.

      Schmalz verabschiedet sich eilig.

      Während sich sein Museumskustos entfernt, befühlt Godeffroy das Päckchen immer wieder. Es hat die Größe und Stärke eines Buches mit hartem Einband.

      Kleine hat ihm also sein Tagebuch gewidmet. Möglicherweise stehen Hinweise auf seinen Tod darin. Offenbar hat sich der junge Mann ihm näher gefühlt, als er geglaubt hat. Godeffroy erinnert sich, dass Kleine einmal ein Zerwürfnis mit seinem Vater erwähnt hatte. Schon auf dem Rückweg spürt er eine nervöse Neugier, das Tagebuch des toten Forschers zu lesen.

      Er schließt die Augen und versucht, sich an den jungen Mann zu erinnern. Nach einer Weile sieht er ihn wieder vor sich: Gerade dreißig Jahre alt war er vor knapp einem Jahr geworden, ein rotblonder, norddeutscher Typ, mit energischem Kinn, fleischiger Nase und fröhlichen Sommersprossen um die Augen. Hatte er graublaue Augen wie die Elbe bei gutem Wetter? Oder grünliche wie das weite Bauernland seiner Heimat an der Unterelbe? Daran kann Godeffroy sich nicht mehr erinnern, nur an eine blitzende, dünnrandige Brille, die dem Sohn eines Gutsherrn und Ziegeleibesitzers ein studentenhaftes Aussehen verliehen hat. Und dass in seinen Mundwinkeln zumeist ein kleines ironisches Lächeln lauerte, das schon bei geringen Anlässen zu einem ansteckenden Lachen ausbrechen konnte – das fällt ihm auch wieder ein.

      Johan Cesar Godeffroy spürt jetzt scharfen, körnigen Schnee auf seiner brennenden Gesichtshaut – als er Sebastian Kleine vor zehn Monaten zum letzten Mal gesehen hat, war es gerade Frühling geworden.

      3

      Hamburg, Donnerstag, 3. März 1898

      Ein für die Jahreszeit ungewöhnlich kräftiges Hochdruckgebiet hat sich über dem östlichen Atlantik und der Biskaya festgesetzt und führt milde Luft aus Südeuropa in den Norden Deutschlands. Tagsüber ist es schon so warm wie sonst erst Anfang Mai. An diesem Morgen liegen an den Landungsbrücken große Gefühle in der Vorfrühlingsluft – Fernweh und Sehnsucht, Lust auf Abenteuer und Angst vor der Zukunft, Liebe und Trauer, Vorfreude und Abschiedsschmerz.

      Mit dem ablaufenden Wasser der Elbe soll die Emily Godeffroy aus dem Hamburger Hafen auslaufen. Ein schönes, elegant gezeichnetes Schiff, das jüngste und modernste in der Flotte der größten Hamburger Handelsreederei. Vor zwei Jahren ist es in der konzerneigenen Reiherstiegwerft vom Stapel gelaufen. Hundert Meter lang ist der aus Stahl genietete Schiffskörper. Die holzgeschnitzte Galionsfigur mit ihren kaum verhüllten üppigen Brüsten hat mit einiger Vorstellungskraft eine gewisse Ähnlichkeit mit der Namensgeberin Emily Godeffroy.

      Die Reiseziele des Windjammers sind Batavia, Singapur, die Südsee und Australien. Hundert Tage wird der Frachtsegler, in dessen Laderäumen bis zu 3000 Tonnen Güter verstaut werden können, voraussichtlich unterwegs sein. Nur ein paar hundert Tonnen Fracht sind in Hamburg an Bord genommen worden, darunter Handels- und Tauschgüter aller Art für das Geschäft mit den Südseeinsulanern. Eine kleine Gruppe von dreißig Auswanderern, darunter nur ein halbes Dutzend Frauen, wird im ausgebauten, niedrigen Zwischendeck untergebracht. Die meisten von ihnen sind zweit- oder drittgeborene Söhne aus dem Bauernland an der Unterelbe, die sich am anderen Ende der Welt als Farmer eine eigene Existenz aufbauen wollen. Auch ein paar Burschen fallen auf, bärenstark und tätowiert und mit finsterem Gesichtsausdruck, die erst kürzlich aus Gefängnissen des Hamburger Umlandes entlassen worden sind.

      Jetzt drängen sich die meisten Passagiere an der Backbordseite. Angehörige und Freunde und Abordnungen ihrer Heimatorte stehen unten auf den Landungsbrücken, rufen und lachen und winken und weinen.

      Sebastian Kleine wedelt mit einer zusammengerollten Zeitung ziellos in die Menge, denn niemand ist da, der ihm persönlich Abschied bereitet. Dennoch ist er bester Stimmung. Schließlich hat er sich lange genug auf diesen Moment gefreut, an dem das große Abenteuer seines Lebens beginnen soll.

      Neben ihm schiebt ein Mann mittleren Alters einen Pfeifenstil in seinen sorgsam gestutzten Bart und pafft blaugraue Wölkchen, die nach Backpflaumen riechen, in die Hamburger Morgenluft. Beide beobachten den Kapitän der Emily Godeffroy, der für die Ausfahrt offenbar seine beste Uniform mit goldglänzenden Schulterstücken angelegt hat und der nun mit wichtigen Gesten und lauten Rufen seine Leute dirigiert.

      Der Mann mit der Pfeife grinst zu Sebastian Kleine herüber, zeigt auf den Kapitän und sagt: »Kennen Sie diese Geschichte? Neulich kommt so ein uniformierter Kapitän aus dem Atlantik-Hotel. ›Rufen Sie mir sofort eine Droschke‹, grölt ein betrunkener Hotelgast. – ›Hören Sie mal, ich bin nicht der Portier, ich bin ein Kapitän‹, sagt der Kapitän. – ›Auch gut‹, sagt der Trunkenbold,


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