Der letzte Tanz im Paradies. Jürgen Petschull

Der letzte Tanz im Paradies - Jürgen Petschull


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drei Männer weichen seinem Blick aus.

      »Wenn Sie noch ein wenig näher kommen würden, Herr Godeffroy«, sagt der Zahnarzt endlich.

      Widerstrebend tritt Godeffroy dicht an den Tisch heran und beugt sich tiefer hinunter.

      Erst jetzt fällt ihm auf, dass der Kiefer dieses Schädels, anders als die anderen, weit geöffnet ist. Wie zu einem Schrei, wie zu einem langen Todesschrei, denkt er.

      »Sehen Sie das hier, Herr Godeffroy?«

      Zahnarzt Krippenberg klopft mit seinem kleinen Spiegel gegen die untere Gebissreihe, »hier unten links hinten, diese nebeneinanderliegenden Backenzähne, die sind beide mit größeren Goldfüllungen versehen.«

      »Ich sehe kein Gold.«

      »Das Gold schimmert auch nur bei sehr genauem Hinsehen an zwei sehr kleinen Stellen durch – es ist nach neuestem Stand der zahnärztlichen Kunst mit einer dünnen Emailleschicht in der Farbe der originalen Zahnsubstanz überzogen.«

      »Woher wissen Sie das so genau?« Godeffroy dreht sich zu Krippenberg um.

      »Ich erkenne meine eigenen Arbeiten auf den ersten Blick.«

      Der Zahnarzt zieht eine rosafarbene, mit blauer Tinte bekritzelte Karteikarte aus seiner linken Jackentasche.

      »Dieser Mann ist vor knapp einem Jahr in meiner Praxis gewesen – am 1. März 1898 nachmittags gegen drei Uhr, um genau zu sein.«

      Während Museumskustos Schmalz zu einer Erklärung ansetzt, wird Godeffroy plötzlich von einer Erkenntnis wie von einem Schlag getroffen. Er hält seine Hände schützend vors Gesicht. Sein Oberkörper kippt nach vorn. Seine Schultern zucken.

      Die anderen schweigen, ein wenig peinlich berührt.

      Als Godeffroy sich wieder gefasst hat, sagt Zahnarzt Krippenberg vorsichtig: »Wenn Sie noch einmal schauen würden, Herr Godeffroy. Wir haben kurz vor Ihrem Eintreffen noch etwas sehr Seltsames entdeckt.«

      Mit einer Pinzette ergreift er ein Stückchen Zahn oder ein Steinchen, vielleicht ein Kristall, jedenfalls ein kleines, scharfkantiges Teil, kaum mehr als einen Quadratmillimeter groß.

      »Das hier habe ich nach genauerer Untersuchung im Gebiss des Toten gefunden.« Es sei offenbar in eine schmale Lücke zwischen zwei Backenzähnen gedrückt worden.

      »Zunächst haben wir gedacht, es handele sich um eine Glasscherbe«, sagt Krippenberg zögernd.

      »Und nun?« Godeffroy blickt zu dem Zahnarzt auf. »Was denken Sie nun?«

      »Es könnte auch ein Mineral sein, vielleicht sogar ein Rohdiamant«, sagt der Zahnarzt. Er habe unlängst bei einem befreundeten Juwelier am Jungfernstieg ähnlich aussehende unbearbeitete Edelsteine gesehen. Er zieht eine Lupe aus seiner Tasche und bietet sie Godeffroy an, aber der winkt ab und sagt: »Es ist ein Rohdiamant!«

      Die anderen Männer sehen ihn erstaunt an.

      »Nach meinen Unterlagen«, so unterbricht Kustos Schmalz die drückende Stille, »nach meinen Unterlagen ist Sebastian Kleine drei Tage nach seiner Behandlung bei Doktor Krippenberg, am frühen Morgen des 3. März vergangenen Jahres, an Bord der Emily Godeffroy aus Hamburg abgereist.«

      Gut zehn Wochen später sei der junge Mann in der neuen godeffroyschen Faktorei auf Neuguinea vorstellig geworden, gesund und voller Tatendrang.

      Godeffroy schluckt ein paarmal. Er presst seine rechte Hand wieder gegen die aufsteigende Übelkeit vor Nase und Mund.

      Als probe er bereits seine Rede für die Trauerfreier seines Mitarbeiters, sagt Museumskustos Doktor Schmalz: »Und nun ist unser geschätzter junger Kollege, der hochtalentierte Naturforscher Sebastian Kleine, also unter äußerst merkwürdigen Umständen in seine geliebte Heimatstadt Hamburg zurückgekehrt ...«

      »Teilweise jedenfalls«, sagt Zahnarzt Krippenberg mehr zu sich selbst als zu den anderen.

      Godeffroy sieht ihn missbilligend an, bevor er sich übergeben muss.

      Draußen vor der Tür klammert sich der große Unternehmer an das Geländer am Fleet wie ein Seekranker an die Reling eines Schiffes, und der Boden unter seinen Füßen schwankt wie Deckplanken in schwerer See. Sein Magen entleert sich in krampfhaften Schüben. Die Brille beschlägt vom übelriechenden Atem. Durch die getrübten Gläser sieht er einen Totenkopf, der nach Luft schnappend aus dem brackigen Wasser auftaucht. Dann hört er einen langen Todesschrei. Das Echo wird zwischen den Wänden der auf beiden Seiten des Fleets stehenden Speicherhäuser hin und her geworfen und vervielfältigt sich zu einem schrillen Chor.

      Vergeblich hält sich Godeffroy die Ohren zu. Er schüttelt sich, fuchtelt mit beiden Armen und presst seine Stirn gegen das kalte Eisen des Geländers, um die Halluzinationen loszuwerden.

      Der Mann, der ihm gefolgt ist, beobachtet ungläubig die wankende Gestalt. In so einer Verfassung hat Doktor Schmalz den Herrn des Hauses Godeffroy noch nie gesehen. Schließlich traut er sich näher und legt beruhigend eine Hand auf Godeffroys Schulter.

      »Ist Ihnen nicht gut ... Kann ich Ihnen helfen?«

      Godeffroy zuckt zusammen. Im Schein einer Laterne erkennt er seinen Museumskustos. Einen flüchtigen Moment lang, den später jeder für sich als Einbildung abtun wird, umarmen sich die beiden Männer wie Hilfesuchende in großer Not.

      Endlich beruhigen sich Godeffroys Sinne. Der Nebel zieht sich wieder über dem Wasser des Fleets zusammen. Die Schreie verstummen, nur das Kreischen der Nachtmöwen ist noch zu hören. Es beginnt zu schneien.

      »Danke. Es geht wieder. Lassen Sie mich bitte allein.« Godeffroy erscheint die eigene Stimme fremd. »Reden Sie bitte mit niemandem über diesen ... über diesen Vorfall ...«

      Museumskustos Schmalz überwindet seine Hemmung. »Müssen wir nicht die Polizei einschalten?«, fragt er schließlich. »Es sieht doch so aus, als ob unser Herr Kleine einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Wahrscheinlich ist er ermordet worden.«

      »Wann haben Sie zuletzt etwas von Herrn Kleine gehört?«

      »Vor rund vier Monaten. Da ist er zu einer Expedition ins Hinterland der Gazelle-Halbinsel auf Neupommern in Neuguinea aufgebrochen.«

      »Und Sie meinen, für diesen Fall ist die Hamburger Polizei zuständig? Nein, auf gar keinen Fall werden wir die Polizei oder sonst eine hiesige Behörde über diese Angelegenheit informieren. Unter keinen Umständen, verstehen Sie mich, Doktor Schmalz ... Jedenfalls bis auf weiteres nicht! Richten Sie das auch den anderen Herren aus. Wir reden dann morgen in kleinem Kreis darüber.«

      Ohne einen Einwand abzuwarten, wendet sich Godeffroy um und geht vornüber gebeugt über das alte Kopfsteinpflaster der Straßen und Gassen am östlichen Teil der Wandrahminsel, die sich in schmierseifige Rutschbahnen verwandelt haben. Unterwegs wird er von einem betrunkenen Seemann angerempelt, der aus einer Kneipentür stolpert. Vor Kohns Zigarrenmacherei erkennt ihn ein spät von der Arbeit heimkehrender Hafenagent, verbeugt sich knietief und lüftet untertänig seine Schirmmütze.

      Sein Weg führt vorbei an den hohen Backsteinfassaden der neuen Speicherstadt, hinter denen auch noch zu dieser Stunde Kisten und Säcke, Ballen und Fässer von Quartiersleuten und ihren Handlangern gestapelt werden. Aus den Fenstern fällt neues, elektrisches Licht. Es riecht nach Kaffee, Tabak und Gewürzen.

      Wie von einem inneren Antrieb gesteuert, erreicht Godeffroy nach einer Viertelstunde den Platz, der von Kindheit an ein Ort des Nachdenkens, des Innehaltens, der Besinnung, manchmal sogar eine Stätte der Andacht für ihn gewesen ist.

      Er steht an der Kehrwiederspitze, am Ende einer schmalen, kilometerlangen, dicht mit Kontor- und Speicherhäusern bebauten Hamburger Hafeninsel, die sich wie ein Schiffsbug in den Elbstrom schiebt. Unter seinen Füßen schwappt und spritzt und gurgelt das Wasser der Elbe und übertönt die anderen Geräusche des Hafens. Im abendlichen Zwielicht sind am vorausliegenden Ufer die Windjammer zu sehen, Drei- und Viermaster, die von allen Meeren der Welt zurückgekehrt sind und nun am Vorsetzen, am Baumwall und an den Landungsbrücken festgemacht haben. Ein dichter


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