Der elfte Tag. Enel Melberg
war das? Haben Sie die Frau gesehen, die eben in einem Cape vorbeischwebte?«
»Das muß ein Gespenst gewesen sein«, antwortete Karen Blixen ruhig. »Dies ist ein Ort für Gespenster.«
»Nein, nein«, rief Virginia. »Das war Orlando, ich habe es gesehen.«
Karen Blixen verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln und winkte abwehrend mit ihrer mageren, knochigen Hand.
»Das glaube ich kaum. Ich weiß, wer es war.«
»Vita? Vielleicht war es Vita. Wenn sie auch hier wäre«, sagte Virginia, und Fieberröte stieg in ihre bleichen Wangen.
Sie rief nach dem geheimnisvollen Wesen, das sie Vita nannte.
Plötzlich hörte man eine Stimme direkt hinter ihr. Es war eine Frauenstimme, tief wie die eines Mannes, aber ohne etwas von der Blixenschen rauchigen Heiserkeit zu haben. Sie war eher melodisch.
»Hier bin ich, Virginia. Du hast gerufen.«
Virginia drehte sich mit einer so heftigen Bewegung um, daß sie beinahe mit der hochgewachsenen Frau zusammengestoßen wäre, die sich lautlos hinter ihr aufgerichtet hatte. Sie trug kniehohe, geschnürte Stiefel, Reithosen und ein langes Hemd mit einem Gürtel. In der Hand hielt sie einen Hut und einen Stock, und den Hals schmückte eine lange Reihe glatter Perlen. Ihre Haare waren ergraut und lagen dünn über Ohren und Stirn, das Gesicht war farblos, aber die dunklen Augen brannten von jugendlicher Glut.
»Hier bin ich, meine liebe Virginia.« Sie schlang ihre langen Arme schützend um den dünnen Körper. Virginia, die sich wie in einem Vogelkäfig gefangen fühlte, wand sich aus ihrem Griff und trat einen Schritt zurück.
»Darf ich vorstellen: Vita Sackville-West oder Lady Nicolson, Baronin Blixen. Adlige Damen aus der höheren Gesellschaft.«
Vita und Karen gaben sich die Hand und verbeugten sich leicht unter gegenseitigen Höflichkeitsbezeugungen.
»Bist du schon lange hier?« fragte Virginia, und ein Hauch von einem schüchternen Backfisch kam über sie.
»Nein, ich bin gerade angekommen. Ich saß da drüben und habe mich einer dunklen Fremden bekanntgemacht.«
»Du und deine Frauengeschichten!« rief Virginia aus, heftiger als sie beabsichtigt hatte. Sie hatte ironisch klingen wollen.
»Sie ist natürlich sehr schön«, konnte sie dennoch nicht unterlassen, hinzuzufügen.
»Nicht nach herkömmlichen Maßstäben. Tatsächlich hat sie eine gewisse Ähnlichkeit mit mir. Groß und dünn, mit dem Schatten eines Bärtchens auf der Oberlippe.«
»Schatten!«
Der spitze Ton schien Vita nichts auszumachen, die eine längere Betrachtung darüber anstellte, welch verführerische Wirkung ein Oberlippenbart auf Frauen habe. Sie wisse es aus eigener Erfahrung. Dann bemerkte sie, daß die dunkle Fremde eigentlich eher Virginia gleiche.
»Dieselbe Mischung aus Scheu und Selbstgefühl, dieselbe tragische Miene. Noli me tangere an der Oberfläche und darunter ein desperater Hunger danach, gesehen und genommen zu werden.«
Virginia zuckte bei ›genommen‹ zusammen.
»Weißt du übrigens, wie sie hierhergekommen ist?« fuhr Vita fort. »Sie scheint auf jeden Fall mehr Sinn für Dramatik zu haben als du. Hat sich mit einem Rasiermesser den Hals aufgeschnitten und im eigenen Blut gebadet.«
»Pfui!« Virginias Vogelaugen blinzelten. »Sei mir nicht böse!« Ihre Lider zuckten.
Vita rief aus:
»Böse? Weshalb sollte ich böse sein! Ich habe ja wohl nichts damit zu schaffen. Wenn du gehen wolltest, mußtest du eben gehen.«
»Verzeih«, bat Virginia.
»Das sah dir ähnlich, dich so zu entziehen. Und dennoch Aufmerksamkeit zu erheischen. Nein, mir hat das nichts ausgemacht, aber du hättest an die arme Vanessa und den armen Leonard denken können.«
»Du glaubst also nicht, daß ich es deinetwegen getan habe?«
»Nein, bewahre, das hoffe ich wirklich nicht!«
Ihre Auseinandersetzung wurde durch den heftigen Wind unterbrochen, der plötzlich erneut aufkam und ebenso schnell wieder verschwand.
Eine hochgewachsene, magere Frau, auf Krücken gestützt – sie trug ein langes, schwarzes, raschelndes Seidenkleid mit hohem Kragen und drei Reihen schwarzer Perlen um den Hals –, folgte dem Windstoß wie in Trance und murmelte:
»Ernst, komm zurück, Ernst, bitte, Ernst!«
»Ist sie das?« fragte Virginia. »Ist das deine dunkle Schönheit?«
»Ja«, antwortete Vita, »das ist sie.«
Karen Blixen, die schweigend an ihrem Tisch gesessen und das Gespräch mit einem belustigten Lächeln verfolgt hatte, winkte die neu Hinzugekommene heran.
»Bitte schön, hier ist Platz. Setzen Sie sich!«
Die dunkle Frau glitt mit einem abwesenden Ausdruck in den Augen auf einen Stuhl an Karens Tisch. Ihre Haare waren in der Mitte gescheitelt und zu einem straffen Knoten gebunden. Die Augenbrauen bildeten kräftige, waagerechte Striche über einer langen, schmalen Nase. Der Mund und die Kinnpartie vermittelten den Eindruck von Willensstärke.
»Darf ich mich vorstellen? Baronin Blixen«, sagte die andere.
Die Schwarzgekleidete wandte sich um und schaute in das schiefe Lächeln.
»Victoria Benedictsson«, entgegnete sie kaum hörbar.
»Ich habe es geahnt, die kleine Postmeisterin. Ich habe es geahnt. Von wem haben Sie geträumt? Ernst? Wir scheinen hier alle Träumerinnen zu sein. Wie war das denn mit dem großen Brandes, gnädige Frau?«
Victoria richtete sich auf, und um ihren Mund erschien ein spöttischer, fast übermütiger Zug.
»Der große Brandes!« rief sie aus. »Für Sie mag er vielleicht groß sein. Sie haben ihn wohl einmal getroffen, als Sie noch ganz klein waren, nicht wahr? Oh ja, ich weiß, wie Sie ihn mit bewundernden Briefen und Blumen verfolgt haben. Sagen Sie, was ist daraus geworden?«
»Na, auf jeden Fall habe ich mich seinetwegen nicht umgebracht. Mich hat dieser Troll nicht verzaubert. Nein, meine Tante Bess und meine Mutter haben nicht zugelassen, daß ich ihn traf, als er endlich eine Visite machte.«
»Was kümmert der mich«, schnitt Victoria ihr das Wort ab. »Ich suche nur Ernst. Ich bilde mir ein, ich hätte ihn gerade hier vorbeigehen sehen.«
»Ja, alle scheinen hier jemanden zu sehen. Ich weiß auf jeden Fall, wer die Gestalt im Cape war.« Karen setzte eine überlegene Miene auf.
Wie um ihre letzten Worte zu unterstreichen, heulte vor der Terrasse ein Sturm auf. Es klang hohl und durchdringend und steigerte sich in einem beinahe unerträglichen Crescendo, dann hörte es so plötzlich auf, als wäre eine Saite durchgeschnitten worden, und hinterließ eine schaurige Leere, die die versammelten Frauen bedrückte.
Virginia brach das Schweigen und sagte leichthin:
»Also deshalb sind wir hier. Zum Rätselraten. Wer richtig rät, bekommt den Nobelpreis!«
Vita nahm den Faden auf:
»Wenn nun schon einmal so viele reizende Frauen hier versammelt sind, warum lassen wir uns nicht etwas einfallen, womit wir uns auf angenehme Weise die Zeit vertreiben können?«
»An was für einen Zeitvertreib denkst du denn?« fauchte Virginia.
»Liebe Virginia«, sagte Vita. »Werd nicht eifersüchtig. Ich habe an nichts Böses gedacht. Nein, aber schaut mal, da drüben. Schaut mal, was für entzückende Gestalten da kommen. Wie ein Büschel Schneeglöckchen drängen sie sich aneinander. Wie nett!«
Drei Frauen, die jünger und vor allem schüchterner aussahen als die anderen, näherten