Der elfte Tag. Enel Melberg
blühenden Apfelsinenbäumen mit dichtem Laubwerk, saßen neben einem plätschernden Brunnen, hielten sich an den Händen und schauten einander in die Augen. Sie versuchten, die Gefühle, die da geweckt worden waren, zu lesen und zu deuten, und sie lebten wie in einem Traum, in dem man weiß, daß man träumt und bald erwachen wird. Eine Zeitlang waren sie sehr glücklich. Aber ihr Traum verwandelte sich in einen Alptraum, als der Sultan sie entdeckte und lebendig zusammen einmauern ließ.
Mit dem nächsten Mädchen ging es auch nicht besser. Inzwischen war es den Eunuchen strengstens verboten, den Garten zu betreten, in dem die knospende Blume des Sultans gefangen gehalten wurde. Die Bewachung wurde strenger, und nur eigens ausgewählte Frauen durften sich in ihrer Nähe aufhalten. Es waren alte, erfahrene Haremsdamen, Erzieherinnen und einige jüngere Frauen, die die Aufgabe hatten, die reine Jungfrau zu zerstreuen. Diese schien nicht die gleiche sehnsuchtsvolle Veranlagung wie die erste zu haben, sondern mit ihrem Dasein ganz zufrieden zu sein. Sie saß nicht am Fenster und träumte, sondern lachte und spielte mit ihren Beschützerinnen, und ihr Wesen war so einnehmend, daß sie alle entzückte. Sie ersann allerlei Streiche und überschüttete sie mit den Geschenken, die sie selbst geschickt bekam. Der Sultan hatte sie noch nicht gesehen, aber er ließ die älteren Frauen über die Entwicklung seiner Blume Bericht erstatten. Sie waren voll des Lobes und priesen wortreich ihre Unschuld und ihr sanftes Wesen. Sie war so zufrieden mit ihrem Dasein und schien sich nichts anderes zu wünschen. Tatsächlich hatte sie ja alles, was sie brauchte. Sie erlebte sogar schon das Glück und die Freuden der Liebe, denn sie war in alle ihre Freundinnen verliebt und teilte ihre Zuneigung unter ihnen auf, und diese liebten sie auch, ohne Eifersucht untereinander. Sie schlief abwechselnd bei ihnen und lernte, ihnen die wundervollsten Genüsse zu schenken, die sie ihr tausendfach zurückgaben. So besaß sie in ihrer Frauenwelt also alles, was sie sich wünschen konnte.
Als der Tag kam, da sie zu ihrem Herrn geführt wurde, brach ihre Welt entzwei. Auf der einen Seite der Kluft war ihr ehemaliges Himmelreich, und auf der anderen breitete sich die Hölle aus. Sie hatte noch nie ein solches Wesen gesehen, ein solches Monster wie diesen Mann, mit dem sie das Lager teilen sollte. Die wunderbaren Spiele, die sie bisher mit dem Reich des Bettes und des Schlafs verbunden hatte, wurden plötzlich beschmutzt, besudelt, zertreten. Harte Fäuste und gierige Zähne zerrten an ihr, ein haariges Gesicht mit keuchendem Atem und einem sabbernden Mund näherte sich dem ihren, und sie wurde wie in einem Schraubstock festgehalten, als ihr Körper von einem so gewaltigen Schmerz durchbohrte wurde, daß sie glaubte, sterben zu müssen. Und dafür war sie erzogen und bewahrt worden, das also war ihre Bestimmung! Die glücklichen Tage waren unwiderruflich vorbei. In ihrer Verzweiflung und um ihrem Schicksal zu entgehen stürzte sie sich vom Balkon und starb auf der Stelle.
Der Sultan konnte diesen Verrat weder verstehen noch verzeihen. Er wurde in seinem Glauben an die Treulosigkeit der Frauen bestärkt und versuchte eine Zeit, sich mit seinen Knaben zu trösten, aber auf Dauer genügten sie ihm nicht. Er war besessen von dem Gedanken, absolut reine Frauen zu erobern. Er ließ neue Mädchen rauben und erziehen und nur von alten Frauen bewachen, und nun sorgte er dafür, daß sie ihm nach der Liebesnacht nicht entkommen konnten. Er ließ sie selbst töten, wenn der Akt vollzogen war; auf diese Weise mußte er sich auch nicht ein zweites Mal einer gebrauchten Jungfrau bedienen.
Das Gerücht von all den ermordeten jungen Bräuten verbreitete sich im Reich, und die Mütter versuchten, ihre kleinen Mädchen zu verstecken, aber die Männer des Sultans fanden dennoch genug, um ihren Herrn zufriedenzustellen. Und auf alle wartete ein grausames Schicksal. Aber ein Mädchen war außergewöhnlich begabt und phantasievoll. Schon als kleines Kind hatte sie es geliebt, Lieder und kleine Geschichten zu erfinden, und als sie fern von der Welt im Harem des Sultans gefangengehalten wurde, erfreute sie ihre alten Wärterinnen damit, daß sie ihnen Märchen erzählte. Auch diese erinnerten sich an Geschichten, und so verging die Zeit im Treibhaus schnell. Dem Mädchen gelang es, den alten Frauen das Schicksal ihrer Vorgängerinnen zu entlocken, so daß sie gerüstet war, als die Hochzeitsnacht herannahte. Sie wurde verhüllt zum Bett des Sultans geführt, und als sie entschleiert wurde, fand er sogleich Gefallen an ihr. Sie beugte den Nacken und küßte den Boden zu seinen Füßen, und dann schaute sie auf.
»Ich weiß, was von mir gefordert wird, aber wenn es meinem Herrn beliebt, so würde ich gerne zuerst ein Märchen erzählen, um die Zeit zu dehnen und so seinen Genuß zu vergrößern«, sagte sie.
Der Sultan war über diese Dreistigkeit erstaunt, aber er fand den üblichen Ablauf inzwischen etwas eintönig und war neugierig, ob dieses Mädchen es schaffen würde, ihn kurzweiliger zu gestalten.
»Nun, laß hören«, sagte er.
Sie setzte sich zu seinen Füßen zurecht und begann ihre Erzählung:
Es war einmal ein junger Mann, der sich eines Tages in eine schöne Frau verliebte, die er auf der Straße gesehen hatte. Das war in einem westlichen Land, wo die Sitten freier sind und die Frauen unverschleiert umhergehen. Er folgte ihr, und sie führte ihn zu einer Pforte in einer Mauer. Die Pforte wurde geöffnet, und sie glitt hindurch und war verschwunden. Der junge Mann klopfte an die Tür, doch er erhielt keine Antwort, und niemand kam, um zu öffnen. Seine Verliebtheit war jedoch so heftig, daß er um jeden Preis in ihre Nähe gelangen wollte. Er schwang sich mit Hilfe eines Seils, das er auf dem Boden liegen sah, auf die Mauer und sprang auf der anderen Seite hinunter. Dort lag ein schöner Garten mit schmalen Wegen zwischen Blumenrabatten und duftenden Büschen, ein Springbrunnen plätscherte in der Mitte, und über allem wölbte sich das dichte Laubwerk der Bäume. Weiter weg stand ein kleiner Palast mit einer alten Steintreppe, schönen Säulen, die einen Balkon trugen, und Fenstern, deren Läden fast alle verschlossen waren. Nur einer stand offen, und aus diesem strömte der wundervollste Gesang, den der junge Mann je gehört hatte. Er blieb wie verzaubert stehen und lauschte, bis die letzten Töne verklungen waren. Dann ging er zur Tür und zog am Klingelstrang. Nach einer Weile waren schlurfende Schritte zu hören, und eine uralte Frau zeigte sich in der Tür und blinzelte ihn mit tränenden Augen an.
»Was wollt Ihr?« krächzte sie.
»Ich suche eine Dame, eine schöne junge Dame, die ich gerade in dieses Haus habe gehen sehen«, sagte der junge Mann mit klopfendem Herzen.
»Hier gibt es keine junge Dame«, antwortete die Hexe barsch.
»Ich habe sie selbst gesehen, ich habe sie durch die Pforte in der Mauer gehen sehen, und hier gibt es kein anderes Haus, also muß sie hier sein. Ich habe sie auch vor einer kurzen Weile singen hören.«
»Ich sage doch, daß es hier keine Dame gibt.«
Der junge Mann wurde von Furcht und dumpfen Ahnungen ergriffen.
»Ihr haltet sie gefangen, vielleicht habt Ihr sie getötet«, argwöhnte er und versuchte, sich an der Alten vorbeizudrängen.
Aber es zeigte sich, daß diese ungeahnte Kräfte besaß, und sie schob den Jüngling mit harter Hand zurück und versperrte ihm den Weg. Da waren leichte Schritte auf der Treppe zu hören.
»Was ist, Filometta?« fragte eine jugendliche, wohlklingende Stimme.
Das ist sie, dachte der Jüngling, wurde aber sofort aufs äußerste enttäuscht, als er einen jungen Mann hervortreten sah. Es war ein Jüngling in seinem Alter mit weichen Zügen, sehr elegant und von großer Schönheit in Haltung und Stil.
Das muß ihr Bruder sein, dachte der Eindringling zunächst, aber gleich darauf durchfuhr ihn ein anderer Gedanke wie ein Peitschenhieb: Wenn es nun ihr Gatte ist!
»Ich bitte vielmals um Verzeihung, mein Herr, daß ich mich so aufdränge. Aber ich sah eine entzückende junge Dame durch die Pforte gehen, und dann hörte ich eine ganz wundersame Musik durch das Fenster, und ich wollte nur eine Gelegenheit finden, diese junge Dame zu treffen, um ihr meine Verehrung zu bezeugen und sie für ihren Gesang zu preisen. Ich bitte tausendmal um Verzeihung, wenn sie Ihre Gattin sein sollte, wovon ich nichts wußte, als ich ihr hierher folgte, das versichere ich Ihnen.«
»Meine Gattin«, sagte der andere und lächelte. »Nein, nein.«
»Also Ihre Schwester. Ich dachte schon, eine gewisse Ähnlichkeit wahrzunehmen.«
»Auch