Der elfte Tag. Enel Melberg

Der elfte Tag - Enel Melberg


Скачать книгу
falschen Wimpern und einen Teil der Schminke, aber sie war immer noch schön, und das Herz des Betrachters wurde von ihren weichen Zügen angerührt, die in ihrer Nacktheit noch weicher erschienen. Sie hakte den Rock auf und entblößte ein rundes, schmales Hinterteil in hellen Trikots, dann zog sie die Bluse über den Kopf. Ihr Rücken war sanft gewölbt, die etwas hervorstehenden Schultern gerade, und im Spiegel sah der junge Mann, wie sie nun den Büstenhalter auszog und eine vollkommen flache Brust zum Vorschein kam. Es gab auch nicht den Ansatz einer weiblichen Rundung. Dann drehte das Objekt seiner Bewunderung sich um und schlüpfte, immer noch trällernd, aus den Trikots. Die Hosen waren vorne etwas ausgebuchtet.

      Der junge Zuschauer im Schrank wurde ohnmächtig und fiel mit einem Poltern zu Boden.

      Als er die Augen wieder aufschlug, stand der junge Mann, den er bei seinem ersten Besuch im Haus getroffen hatte, mit einem Glas Wasser in der Hand vor ihm und führte es an seine Lippen.

      »Sie sind also La Zambinella«, preßte er hervor.

      »Ja.«

      »Aber Sie singen wie eine Frau.«

      »Ja, eine kleine Operation, die mich dessen beraubt hat, was für die meisten Männer das wichtigste ist, hat mir statt dessen die Stimme einer Frau gegeben, eine Stimme, die von vielen als göttlich bezeichnet wird«, sagte er bescheiden.

      »Aber die Gräfin von Rosalba, wer war dann sie?« fragte unser junger Held, nachdem er die Fassung wiedergewonnen hatte.

      Da geschah etwas Eigentümliches. Der schöne Jüngling verwandelte sich vor seinen Augen; die Haare ergrauten und verloren ihren Glanz, das Gesicht zog sich in tausend Falten und Runzeln, Wangen und Kinn erschlafften, die Augen ermatteten und wurden klein und rotgerändert. Die ganze Gestalt sank in sich zusammen und schrumpfte zu der eines alten Mannes, oder war es die einer alten Frau? Als das Wesen wieder sprach, war die Stimme heiser und krächzend und wurde zwischen zahnlosen Kiefern hervorgepreßt.

      »Ich bin die Gräfin von Rosalba, die eigentlich der Kastrat Rossamara ist, von dem Sie sicher schon gehört haben, zumindest über Ihre Eltern, und ich bin viele andere. Aber nun, da Sie meinem Geheimnis auf die Spur gekommen sind, kann ich endlich Frieden finden.«

      Die junge Erzählerin verstummte.

      »Aber wie hat es sich denn zugetragen, das mußt du mir auch erzählen«, befahl der Sultan und gab ihr so noch eine Nacht Aufschub.

      Und die kleine Prinzessin erzählte, Nacht um Nacht, bis es tausendundeine Nacht waren. Da hatte sie von den Geschichten genug und wollte sich selbst in die Welt hinausbegeben, von der sie erzählt hatte, verspürte solche Lust, sie in Wirklichkeit kennenzulernen.

      In der letzten Nacht gelang es ihr, ein Messer mit in das königliche Schlafgemach zu nehmen, und als sie ihre Geschichte erzählt hatte und sah, daß dem Sultan die Augen zufielen, stieß sie ihm das Messer ins Herz, zog ihre einfachsten Kleider an und floh aus dem Palast. Seitdem ist sie spurlos verschwunden, aber es gibt Leute, die glauben, daß sie nun eine sehr alte Frau ist, die sich davon ernährt, auf Märkten und an Stadtmauern Märchen zu erzählen.

      »So beendete die alte Erzählerin ihre Geschichte, damals in meiner Jugend, als ich an der Stadtmauer von Alexandria auf meine Karawane wartete«, sagte der merkwürdige Fremdling, während draußen der Sturm heulte, das Kaminfeuer jedoch wärmte und einen flackernden Schein über das Zimmer warf, an jenem weit zurückliegenden Abend in meiner Kindheit, schloß Karen Blixen.

      3

      Die anderen Frauen brachen in gemeinsames Gelächter aus.

      »Ja, da seht ihr, die Männer werden gebraucht, und wenn auch nur als Gegner«, sagte Victoria. »Eine Erzählung ganz ohne Männer wäre schon ziemlich langweilig.«

      »Sag das nicht«, überlegte Virginia. »Es wäre einen Versuch wert.«

      »Ja, aber niemand würde solche Geschichten ernst nehmen«, antwortete Victoria. »Sie würden irgendwie ärmlich wirken.«

      »Warum denn das?« fragte Charlotte hitzig. »Oder warum soll man nicht über kleine und einfache Dinge erzählen können und sie zur Kunst erheben? Ich habe immer von solch einem Buch geträumt, einem Buch, das nur einfache, alltägliche Menschen schildert – oder warum nicht nur Frauen?«

      »Ein Buch ohne einen Rochester? Nein, das glaube ich nicht, liebe Charlotte«, warf Emily ein.

      »Ich auch nicht«, sagte Anne und schüttelte energisch ihre nußbraunen Korkenzieherlocken. »Stellt euch vor, wenn er wirklich hier wäre!« rief sie dann klagend aus. »Ich war ganz sicher, daß wir uns wiedersehen würden.«

      »Wer«, fragte Emily, »Rochester?«

      »Nein, du Dummkopf, du weißt genau, wen ich meine. William Weightman.«

      »Ach so, der«, sagte Emily gelangweilt. »Ich für meinen Teil hätte Heathcliff wiedersehen wollen, und ich bin fast sicher, daß er hier ist. Ich meine ihn vorhin gesehen zu haben.«

      »In einem Cape?« lächelte Karen wissend.

      »Ja, in einem Cape«, murmelte Emily.

      Victoria stand auf, verbeugte sich vor den anderen und erklärte, daß sie einen Spaziergang zu machen gedenke. Sie streckte sich nach den Krücken, die an den Tisch gelehnt waren, und auf diese gestützt ging sie leicht hinkend, aber in würdevoller Haltung davon.

      Anne wandte sich eifrig an Emily, als ob sie darauf gewartet hätte, wieder zu Wort zu kommen.

      »Aber William war doch wirklich! Im Gegensatz zu Rochester und Heathcliff und all den anderen, die wir erfunden haben. William war der einzige, der mich dazu brachte, zu leben. Ich war sicher, daß ich ihn wiedersehen würde! Sonst wäre all dieses Leiden unerträglich gewesen. All dieser Schmerz, die Krankheit, die mich von innen her auffraß, die Gewißheit, daß ich so jung sterben würde, ohne etwas von dem tun zu können, was ich gewollt hätte: noch mehr Bücher zu schreiben, zu heiraten, Kinder zu kriegen. Mein einziger Trost war, daß ich ihn auf der anderen Seite wiedersehen würde. Er ist vielleicht noch nicht da, aber er muß kommen!«

      »Zu schade«, sagte Emily unbarmherzig, »du siehst doch, daß dies hier eine Frauenwelt ist! Du mußt dich eben mit den von uns geschaffenen Figuren zufrieden geben, und glaub mir, sie sind besser und spannender als dein kleiner Hilfsprediger.«

      »Wie gemein du bist!« rief Anne aus. »Du gönnst mir William nur nicht, weil du selbst keinen Mann abgekriegt hast.«

      »Einen Hilfsprediger!« Emily schnaubte verächtlich.

      »Hört auf zu streiten«, ermahnte sie Charlotte.

      »Nein, Mama«, keifte Emily zurück.

      Karen mischte sich in die Kabbelei ein. In ihrem weißgepuderten Gesicht wirkte der Mund wie ein schräger Pinselstrich.

      »Hört zu, ihr Mädchen, ihr seid entzückend! Aber meint ihr nicht, wir sollten versuchen, etwas zu trinken zu bekommen? Ich bin sehr durstig, besonders nachdem ich so lange gesprochen habe. Ich habe einen ganz trockenen Hals.«

      »Eine gute Idee«, stimmte Vita zu. »Eine Erfrischung wäre nicht verkehrt.«

      »Wie zum Beispiel Champagner«, sagte Karen. »Ich habe tatsächlich schon eine Bestellung aufgegeben, aber niemand scheint sich darum zu kümmern. Ich sterbe, wenn ich nicht bald eine Zigarette bekomme!«

      »Wir versuchen es einfach noch einmal.« Vita stand auf und ging auf das Gebäude zu. »Hallo!« rief sie mit dunkler, wohlklingender Stimme ins Haus. »Ist hier jemand?«

      Wie aus dem Nichts erschien das Dienstmädchen, knickste und lächelte einschmeichelnd.

      »Ah, da sind Sie ja!« rief Karen aus. »Also, kann ich jetzt das bekommen, was ich schon vor langer Zeit bestellt habe, und zwar sofort!«

      Das Mädchen ging zu ihrem Tisch und wedelte leicht mit einem Lappen darüber, ohne ansonsten von der Baronin Notiz zu nehmen. Der blieb angesichts dieser beleidigenden Mißachtung der Mund offen stehen.


Скачать книгу