Der elfte Tag. Enel Melberg

Der elfte Tag - Enel Melberg


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      »Wie reizend«, fuhr Vita fort. »Wirklich wie Schneeglöckchen zwischen der Lunaria, der Schwertlilie, der Narzisse und der Nachthyazinthe.«

      »Ja, hier kannst du botanisieren«, sagte Virginia spitz. »Hierher, bitte sehr, hier ist eine alte Dame, die Sie kennenlernen will«, rief sie den Neuankömmlingen zu.

      Die drei Frauen waren inzwischen bei den Tischen angelangt. Victoria saß mit Karen an einem, Vita und Virginia an dem daneben.

      »Darf ich vorstellen? Das ist Vita Sackville-West, die berühmte Schriftstellerin«, sagte Virginia. »Ich selbst heiße Mrs. Woolf. Und hier haben wir die Baronin Blixen und Frau Victoria Benedictsson aus Schweden. Wir sind also alle Schriftstellerinnen.«

      »Charlotte Brontë«, stellte sich die erste der drei jungen Frauen mit einer leichten Neigung des Kopfes vor.

      »Anne«, sagte die zweite und stieß die dritte in die Seite, die wegschaute, als ob das Ganze sie nichts anginge.

      »Emily, du mußt guten Tag sagen!« Diese wandte sich langsam den versammelten Frauen zu und sagte mit deutlicher, aber unpersönlicher Stimme ihren Namen.

      Eine leichte Konversation über die kühle, jedoch frische Luft und das Wetter im allgemeinen setzte ein.

      »Hier oben werden wir auf jeden Fall von Regen verschont bleiben«, sagte Virginia. Dann gab man seinem Wohlgefallen über das schöne Panorama Ausdruck, auch wenn der Nebel die Sicht behinderte. Nur Emily nahm nicht an dem Gespräch teil.

      »Was für nette Mädchen, so wohlerzogen«, lobte Karen.

      Plötzlich sagte Emily:

      »Seht ihr die Heide dort unten? Und all die Gräber?«

      »Nein«, antwortete Charlotte. »Laß uns jetzt nicht darüber reden.«

      »Unser Garten war ein Friedhof, unsere Bäume waren Grabsteine, unser Vaterhaus stand auf einem Kirchhof«, fuhr Emily fort, ohne von Charlotte Notiz zu nehmen.

      »Aber wir sind doch jetzt hier oben«, sagte Anne, »in schwindelnder Höhe.«

      »Ja, nicht wahr«, mischte sich Karen in das Gespräch ein. »Hier oben kann man atmen. Hier können wir leben und arbeiten. Na, meine jungen Damen, wohin würden Sie uns führen, wenn Sie die Wahl hätten?«

      »In die Hölle«, antwortete Emily brüsk.

      »Immer hübsch langsam«, lachte Vita. »Das würde ein ganz schön tiefer Fall.«

      Karen wandte sich an sie:

      »Und Sie, wohin würden Sie uns mitnehmen?«

      Ohne zu zögern, antwortete Vita:

      »In meinen Garten. Nach Sissinghurst in meinen üppig blühenden Garten voller reifender Früchte und einem Meer von Blumen an einem Spätsommertag. Ich würde euch auch den Teil zeigen, in dem nur weiße Blumen wachsen, meinen weißen Garten, meinen Mondscheingarten, ja, ich würde euch auf einen Rundgang durch meinen Lustgarten mitnehmen.«

      »Und dann würdest du uns eine nach der anderen ausziehen«, sagte Virginia.

      »Wir würden nackt unter den Obstbäumen tanzen, ja, genau!« erwiderte Vita.

      »Wie schrecklich!« Virginia erschauerte.

      Sie war nun an der Reihe, und die Baronin fragte auch sie, wohin sie die Damen mitnehmen würde. Sie dachte nach.

      »Vielleicht an einem klirrend kalten Wintertag an die Themse. An einem Tag, der so kalt ist, daß Reisende zu Statuen erstarren, bedeckt von pudrigem Schnee. Ich würde euch auf eine wärmende Schlittschuhfahrt über das singende Eis mitnehmen, und ich würde euch mit meinem dampfenden Atem Leben einhauchen, und eure Backen würden leuchten wie rote Äpfel.«

      Victoria, in deren Augen Leben gekommen war, rief aus:

      »Das klingt schön! Aber ich ziehe doch die Sonne und den Süden vor. Nicht die Strände und das Faulenzerleben, das kein Leben ist. Aber die Cafés, die lebhaften Gespräche, die Hörsäle voller Ehrfurcht vor den großen Denkern, die Theater, die Kunstgalerien. So weit weg von den südschwedischen Lehmäckern wie möglich. Das Schlimmste, was es gibt, ist die schmutziggraue Ebene Südschwedens an einem nebligen Wintertag, die endlos sich ausbreitende Trostlosigkeit!«

      Virginia war noch nicht zu Ende:

      »Vielleicht würde ich euch auch auf eine Polarexpedition mitnehmen. Ja, mit allen Polarreisenden zur Eisjungfrau.«

      »Eisjungfrau!« fauchte Vita. »Das würde zu dir passen.«

      Virginia nahm keine Notiz von ihr. Sie schien schon weit weg zu sein.

      »Ich würde euch zu einem Mann mitnehmen, der drei Expeditionen und zwei Weltkriege überlebt hat und hundert Jahre alt wurde«, begann sie mit etwas eintöniger Stimme, die jedoch im Laufe des Sprechens lebhafter wurde. Sie strich sich die Haare aus der Stirn, wie um die Sicht freier zu machen, und ihr Gesicht schien von innen zu leuchten. Eine merkwürdige Energie entströmte ihren Worten, während ihre Stimme, als sie fortfuhr, einen frostigen Unterton bekam:

      Seit der letzten Expedition, die zum Südpol führte, stand die Zeit für ihn still. Eigentlich blieb er da draußen in der Weite des Schnees. Eisige Winde und die Nebelschwaden der Polarnacht zogen durch seinen alternden Kopf, und an den Stellen, wo es Raum für Familie und Freunde hätte geben müssen, waren nur weiße Flecken. In Kindern und Kindeskindern, die an ihm vorüberzogen, sah er nur Zuhörer für seine Erzählungen von den Abenteuern, die er erlebt hatte. Vertraulichen Umgang hatte er nur mit Nansen, Andrée, Scott und Piery, er las ihre Tagebücher und machte sich ihre Gedanken zu eigen. Mit ihnen zusammen begab er sich wieder hinaus ins Eismeer, in die Weiten, wo er einen ganz privaten Kampf mit der Natur ausfocht, allein mit dem Polarstern über sich und dem Gebot der männlichen Willensstärke in der Brust. Als die Weltenbrände um ihn herum wüteten, war er weit weg in der Weiße und Kälte und blieb unberührt von Massenschlachten, Bombardements und brennenden Städten. Er lebte immer noch in der Zeit der einsamen Mannestaten.

      Jedes Jahr zu Weihnachten wurden die Enkel zum Großvater geführt. Er war weißhaarig und hatte einen Bart, der aussah, als ob er bereift wäre, und schaute sie aus hellblauen Augen an, die wie der Polarstern leuchteten. Er murmelte und nickte jedesmal, wenn sie ihm wieder vorgestellt wurden, und legte ihnen eine kalte, knochige Hand auf den Kopf. Für sie war es wie ein Besuch bei König Winter, der sie ins Märchenland einlud. Der Alte lebte im Westen der Sonne und im Osten des Mondes und weigerte sich zurückzukommen.

      Er war einer der wenigen, die die Expeditionen überlebt hatten – sie waren um die Jahrhundertwende der extremste Ausdruck männlicher Eroberungslust. Das Unbehagen an der Kultur trieb die Polfahrer hinaus in die Wildnis, zu den noch unerforschten weißen Flecken auf der Landkarte, auf unberührten, jungfräulichen Boden, den noch kein Mann vor ihnen betreten hatte, und es trieb sie zu Nahkämpfen mit der Natur selbst, ihrer Launenhaftigkeit und Unberechenbarkeit ausgesetzt. Das Chaos lauerte überall, sie waren weit weg vom Sicheren und Gewohnten, von der Feigheit und Lauheit der Sklavennaturen und dem weichen Schoß der Frauen in der Geborgenheit des Heims. Sie kämpften für aristokratische Ideale und Ehrbegriffe, in einer Zeit, die im Begriff war, diese zu verwässern, und die drohte, die Unterschiede zwischen den Menschen auszugleichen und großartige Gedanken zu eliminieren.

      Höhere Mächte und ideale Forderungen bestimmten ihre Wege und besiegelten ihr Schicksal, und in Tagebüchern und Briefen an ihre Ehefrauen schrieben sie, daß sie die einzige sei, die ihn verstehe, daß sie ihn in ihrem Inneren besser kenne als er sich selbst, von seinen innersten Motiven wisse und daß sie bestimmt einsehen würde, daß er sein Leben und seine Familie opfern müsse für das höhere Streben, daß er selbst machtlos sei gegenüber dem männlichen Willen, der von ihm Besitz ergriffen habe. Die Frau müsse verstehen, daß nur die Feigen und Bequemen die Familie höher bewerten als den Kampf und das Lebensziel. Das schrieben sie, das glaubten sie, und die Polarnacht verkörperte dieses höchste Ziel.

      »Es gibt nichts Wunderbareres als die Polarnacht. Ein Traumbild, gemalt in den zartesten


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