Der elfte Tag. Enel Melberg
ferne, unendliche Melodie von gedämpften Saiten. Aber ist nicht alle Schönheit des Lebens so, hoch und fein und rein wie diese Nacht?« schrieben sie in ihre Tagebücher.
In der absoluten Weiße, im Weiß, das in Weiß übergeht, in Nuancen von Weiß suchten sie ihr Ziel. Aber sie waren unsicher, wo in all dem Weiß sie ihre Flagge hissen sollten als Beweis dafür, daß sie ihr Ziel ereicht hatten. Wo war der eigentliche Pol? Wo war das Ende der Welt, und wie sollten sie es kennzeichnen und der Nachwelt zeigen, daß sie es gefunden hatten? Daß sie die ersten waren, daß sie da waren? Sie hatten die Weiße gesucht, aber sie konnten sie nicht erobern, unerlöst irrten sie weiter, von Ziel zu Ziel, von Weiße zu Weiße, von Pol zu Pol. Wie der Fliegende Holländer trieben sie ihre Hunde über die Weiten oder zogen unter unmenschlichen Leiden und Strapazen selbst ihre Schlitten. Viele wurden wahnsinnig oder gingen an Skorbut, Hunger oder Kälte zugrunde, und viele suchten den Tod in einer Expedition, die zum Scheitern verurteilt war; sie starben im Kampf, draußen auf dem weiten, weißen Feld, sie legten sich in den reinen, weißen Schnee, umarmten die Eisjungfrau und erstarrten in ihrem Schoß zu Eissäulen.
Virginias Stimme war immer leiser geworden, als ob sie sich in der Luft über der weißen Weite auflösen würde, und der letzte Satz verklang wie ein gedämpfter Akkord in der Stille.
Die anderen Frauen schauten die Erzählerin schweigend und erwartungsvoll an.
»Ja?« sagte Karen, und das Fragezeichen hing über den Schneemassen wie ein Haken, an dem Virginia sich aufschwingen könnte.
»Ja was?« Virginias Lider zuckten leicht.
»Wir warten gespannt auf die Fortsetzung der Geschichte«, sagte Karen mit gebieterischer Geduld.
»Es gibt keine.«
»Seht ihr denn nicht, daß sie müde ist!« Vita legte einen schützenden Arm um die fröstelnde Virginia. »Jetzt hast du dich wieder übernommen! Warum mußt du dich auch so weit hinauswagen? Halte dich doch lieber an das Naheliegende und Gewohnte. London, die Damen der besseren Gesellschaft, die Einladungen zum Tee, die Literatur – da bist du zu Hause. Was hast du denn da draußen bei den männlichen Heldentaten in den Polarnächten zu suchen?«
»Genau«, sagte Emily wie zu sich selbst, ohne sich um die anderen zu kümmern. »Genauso kalt und überlegen ist er, der gute Vater, der Herr der Schöpfung, und wir sind ausgestoßene Kinder.«
»Aber Emily«, sagte Anne leise, aber mit Nachdruck. »Wie kannst du so etwas sagen? Wie kannst du so etwas denken? Unser Vater kann uns doch wohl nicht hassen?«
»Doch, das kann er, und wir hassen ihn«, kam die scharfe Antwort.
Außer Charlotte, die dicht neben den Schwestern saß, hatte niemand ihre Auseinandersetzung verfolgt. Sie schaute verlegen vor sich hin, als ob sie sich schämte.
»Hört jetzt auf«, flüsterte sie und blinzelte mit ihren großen, kurzsichtigen Augen zu den anderen Frauen hinüber. Erleichtert stellte sie fest, daß diese nichts gehört hatten.
»Die Eisjungfrau«, sagte Victoria mit einem Hauch von Schmerz in der rauhen Stimme. »Er nannte mich immer Eisjungfrau.«
Sie beherrschte sich.
»Aber können wir uns denn nicht wieder in die Zivilisation zurückversetzen?« fuhr sie fort. »Ich habe schon immer einmal England sehen wollen!«
Virginia sammelte sich und wandte sich ihr zu.
»England«, sagte sie. »Good old England. Wo eine Frau heutzutage angeblich Premierminister werden und sich wie ein Mann benehmen kann. Aber hat eine Schriftstellerin inzwischen wohl ein eigenes Zimmer, und kann sie sich selbst ernähren?«
»Du hast auf jeden Fall ein eigenes Zimmer bekommen«, warf Vita spitz ein. »Du hast zum Schluß deinen höchst privaten Sarg erhalten. Davon hast du doch geträumt. Es hat ja nicht gereicht, daß du über mein Turmzimmer verfügen konntest, wie du wolltest. Nicht einmal ein Elfenbeinturm hätte dir genügt. Du hast am Ende das bekommen, was du gewollt hast!«
»Liebe Vita«, bat Virginia, »sei mir nicht böse! Nun sehen wir uns doch endlich wieder.«
»Ja«, entgegnete Vita besänftigt, »wir haben uns wiedergefunden! Und was machen wir jetzt?«
»Laßt uns doch weiter Geschichten erzählen«, sagte Karen. »Das ist alles, was wir können. Das ist wirklich alles.«
Ein langes Schweigen breitete sich aus. Schließlich stieß Emily hervor:
»Das könnte man beredtes Schweigen nennen!«
»Ein Schweigen wie im Grabe«, lachte Karen heiser. »Aber nun gut, wenn man der Stille lange genug lauscht, kann man sie reden hören. Haben Sie, meine Damen, schon die Geschichte von der Stille gehört? Oder die von der leeren Seite?«
»Die leere Seite?« rief Anne aus und errötete, als sie merkte, daß die anderen sich zu ihr umdrehten. »Nein, haben wir nicht, oder, Charlotte?« wandte sie sich hilfesuchend an die Schwester.
»Nein, ich glaube nicht«, antwortete die und wandte sich mit höflicher Aufmerksamkeit der älteren Dame zu.
»Ich habe sie von einer sehr alten Märchenerzählerin gehört«, sagte Karen.
»Kurzgefaßt lautet die Geschichte so: Es soll einmal ein Nonnenkloster der Karmeliter irgendwo auf einem Berg in Portugal gegeben haben, wo man den allerfeinsten Flachs anbaute. Zur Blütezeit leuchtete der ganze Berg so blau, als ob er in den Himmel übergegangen und eins mit ihm geworden wäre. Die Nonnen waren berühmt für ihren Flachs, und sie stellten ein so erlesenes Leinen her, daß sie die Ehre hatten, daraus die königlichen Brautlaken weben zu dürfen. Aber damit nicht genug: Wenn die Hochzeit vorbei war, wurden die blutbefleckten Laken ins Kloster zurückgebracht und dort in einer Galerie aufgehängt«, schloß sie triumphierend.
»Wie schrecklich!« Emilys schwarze Augen glänzten.
»Abscheulich«, stieß Anne keuchend hervor.
»Ekelhaft«, flüsterte Victoria und machte eine abwehrende Handbewegung, als ob sie eine lästige Fliege verscheuchen wollte.
Nur Charlotte bat Karen mit leiser Stimme und bleich, mit dem Blick einer Maus, die von einer Schlange hypnotisiert wird, weiterzuerzählen. Diese fuhr beinahe schadenfroh fort:
»Es gehörte zu den Privilegien des Klosters, versteht ihr, daß sie die Leintücher mit den blutigen Mustern darauf zurückbekamen. Die Mittelstücke von all diesen Brautlaken wurden in einem schönen Rahmen an die Wände der Galerie gehängt, jedes mit einem Namensschild versehen. Frauen von königlichem Blut pilgerten zu dem Kloster und standen in tiefes Nachdenken versunken vor diesen Bildern, in die sie eine Geschichte nach der anderen hineinlasen. Aber es gab ein Laken, das mehr Zuschauer anzog als alle anderen, vor dem die Menschen am längsten stehenblieben und am intensivsten nachdachten. Es hatte den gleichen kostbaren Rahmen wie alle anderen. Aber es war ganz weiß.«
»Das also war die leere Seite«, flüsterte Charlotte. »Ich verstehe.«
»Ja, meine Damen, dies war die kürzeste Fassung von ›Die leere Seite‹.«
»Dem gibt es eigentlich nichts hinzuzufügen«, sagte Emily mit einem kurzen Lachen.
Die anderen fielen in ihr Lachen ein, eine etwas zögernd, als wollte sie prüfen, ob sie dazugehörte, hustend und abgehackt, eine andere befreit losplatzend, die dritte überlegen glucksend, die vierte von den anderen mitgerissen, als ob eine ansteckende Krankheit sich ausgebreitet hätte, bis sie alle zusammen lachten, prustend, wiehernd, einander anstachelnd, bis ihnen die Tränen über die Wangen liefen. Schließlich verebbte das Gelächter und hinterließ eine noch größere und dichtere Stille als die, welche der Geschichte vorausgegangen war. Als das allgemeine Schweigen peinlich zu werden drohte, versuchte Victoria, es zu brechen, indem sie sagte:
»Wißt ihr, ich finde es ziemlich leer hier. Irgend etwas fehlt.«
Karen lächelte.
»Die Männer fehlen, meine Lieben. Kloster und Kunst in allen Ehren. Aber auf die