Der elfte Tag. Enel Melberg
hätte sie nur so gerne noch einmal gesehen und singen gehört.«
»Warum gehen Sie dann nicht heute abend in die Oper, dort singt sie«, schlug der andere höflich lächelnd vor. »Hier ist eine Eintrittskarte, die ich übrig habe, bitte sehr.«
Der junge Mann bedankte sich überschwenglich und wurde von der alten Frau zur Pforte hinausgeleitet.
Am gleichen Abend ging er in die Oper und erfuhr, daß die große Zambinella auftreten würde und das Stück ›Das Testament‹ hieß. Aus dem Gemurmel des Publikums um ihn herum entnahm er, daß man sich sehr viel von dem Abend versprach. Die Sängerin war wie eine Sternschnuppe, die plötzlich am Himmel aufgeht, und niemand wußte so recht, woher sie kam. Dieses Geheimnis um ihre Person steigerte noch ihre Anziehungskraft, und Spannung lag in der Luft, als der Vorhang aufging und das Orchester die Ouvertüre spielte. La Zambinella hatte ihren Auftritt in einer großen Galatoilette.
»Das ist sie!« Der junge Mann hörte, wie sein Gedanke laut ausgesprochen wurde, und er wußte nicht, ob er selbst diesen Satz ausgerufen hatte oder sein Banknachbar. Er konnte seine Augen nicht von der Frau auf der Bühne lösen. Sie war vollendet. Ihre schwarzen Locken ringelten sich weich über alabasterweiße Schultern, ihre funkelnden Augen richteten sich zuerst auf das Publikum, und fast glaubte der junge Mann, sie schaute ihn an, bevor sie ihren Blick zur Decke hob. Ihr Hals war schmal und weiß wie der eines Schwans, und ein Spitzentüchlein verbarg die Öffnung des Busens und ließ dennoch die weichesten Lilienhügel erahnen. In einer sanft geschwungenen Linie ging die Taille in die Hüften über. Sie machte eine anmutige Verbeugung zum Orchester, und dann begann sie zu singen. Der junge Mann glaubte im Himmel zu sein, die Töne entführten ihn in ätherische Gefilde, und die ganze Zeit schien es ihm, als ob diese wunderbare Frau ihn an der Hand hielte. Er geriet in Ekstase, und seine Verzückung ließ nicht nach, bis die Musik verklungen war und der Applaus um ihn herum tobte. Als sie von der Bühne verschwand, vernahm er ein Stöhnen neben sich.
»Oh, oh, sie ist es, sie ist es wirklich«, hörte er seinen Nachbarn sagen, die Worte erstickten in einem Seufzer.
Der junge Mann wandte den Kopf und erblickte einen Greis in altmodischen Kleidern und Perücke, der auf eine Krücke gestützt dasaß und seufzte.
»Was ist mit Ihnen?« fragte der junge Mann.
Der Alte schaute ihn aus rotgeränderten Augen an und sagte:
»Sie ist es, die Geliebte meiner Jugend, die Gräfin von Rosalba, ich schwöre es. Ich habe nie eine andere als sie geliebt.« Er warf sich mit einem Röcheln zurück und wurde violett im Gesicht, dann entspannten sich seine Züge, und der Blick brach.
Die Erzählerin verstummte.
»Was geschah dann? Wer war diese Frau?« fragte der Sultan. »Du mußt weitererzählen.«
»Oh, mein Herr, ich sehe, es tagt schon, und Ihr bedürft der Ruhe. Mit Eurer Erlaubnis komme ich nächste Nacht wieder und erzähle weiter.«
Der Sultan war wirklich müde und außerdem gespannt auf die Fortsetzung, er ging also auf ihren Vorschlag ein.
»Nun fahre fort!« ermahnte er sie ungeduldig in der nächsten Nacht. »Wer war der Greis, wer war diese Rosalba, und welche Verbindung bestand zwischen ihr und Zambinella?«
»Wenn es meinem Herrn beliebt«, sagte das Mädchen und erzählte weiter:
Der junge Mann half dem Diener des Greises, der in der Pause herbeigeeilt war, den Toten so diskret wie möglich hinauszuschaffen und in einen geschlossenen Wagen zu legen, der vor der Tür wartete. Als der Diener dann selbst in den Wagen stieg, folgte ihm der junge Mann, getrieben von Neugier und einem vagen Unbehagen.
»Wer ist der Tote?« fragte er seinen schweigenden Gefährten. »Und wer ist die Gräfin von Rosalba?«
»Das ist eine merkwürdige Geschichte, die man jetzt vielleicht erzählen kann. Mein Herr war der Herzog von Montenegro, als er die schöne Gräfin von Rosalba kennenlernte. Sie war mit einem sehr viel älteren Mann verheiratet, einem Grafen, der sie nur geheiratet hatte, um ihren vollendeten Gesang zu hören. Sie war sehr schön, und nur ihre Stimme konnte an Schönheit mit ihrer Gestalt wetteifern. Man erfuhr nie, woher sie stammte oder wo der Graf sie gefunden hatte, nur daß er sie in den Adelsstand erhoben und ihr einen Rang gegeben hatte, der ihrer Schönheit und ihrer Kunst würdig war. Sie verlieh dem gesellschaftlichen Leben Glanz, wohin sie auch kam, und der Graf ließ große Bankette zu ihren Ehren abhalten. Der Herzog war damals noch ein sehr junger und heißblütiger Mann, der schon viele amouröse Abenteuer genossen hatte. Aber eine so herrliche Frau wie die Gräfin von Rosalba hatte er noch nie gesehen, und ihre göttliche Stimme ließ ihn vollends zu ihrem Sklaven werden. Er machte ihr seine Aufwartung, überschüttete sie mit Bitten um den mindesten Gnadenbeweis. Aber er erreichte nur, daß er ihren Fächer aufheben, ihre Noten tragen und ab und zu im Garten mit ihr spazierengehen durfte. Der glücklichste Tag in seinem Leben war, als sie ihm erlaubte, ihre Hand zu nehmen und sie bis zum Ellbogen hinauf zu küssen. Aber er wollte sich damit nicht begnügen, sein Begehren wurde immer unmäßiger, und schließlich kam er zu der Einsicht, daß er ihren Gatten aus dem Weg räumen mußte, wenn er Erfolg bei der Dame haben wollte. Mein Herr forderte den alten Grafen zum Duell, und jung und beweglich wie er war, gelang es ihm, seinen Rivalen zu töten.
»Nun bist du mein«, flüsterte der Herzog leidenschaftlich der Gräfin ins Ohr und wollte sie küssen, aber sie drehte ihr Gesicht weg. Da versuchte er es mit Gewalt. Sie wurde kreideweiß im Gesicht, und ihre Augen funkelten ihn wütend an.
»Behandeln Sie mich nie wieder so«, sagte sie und riß sich los. Dann floh sie und schloß sich in ihrem Zimmer ein.
Der Herzog kam immer wieder zum Schloß und bat, vorgelassen zu werden, wurde aber jedesmal abgewiesen. Schließlich kletterte er zu ihrem Fenster hinauf und schaute in ihr Schlafzimmer. Es war leer. Sie war geflohen.
Sie blieb spurlos verschwunden, und er widmete den Rest seines Lebens und sein ganzes Vermögen dem Versuch, sie aufzuspüren. Mal hörte er das Gerücht von einer wunderschönen Frau, die in Italien Kanzonetten auf der Straße sang, mal hatte er eine bezaubernde Sängerin unter umherziehenden Zigeunern entdeckt. Er folgte unermüdlich ihren Spuren, aber immer wieder wurde seine Hoffnung enttäuscht. Jedesmal wenn er ankam, war sie gerade verschwunden. Fast war sein Vermögen gänzlich zerronnen. Es war nicht mehr viel übrig, als wir in diese Stadt kamen, das weiß ich. Und dann fand er sie hier – als La Zambinella. Sie ist es wirklich, das kann ich bezeugen. Und sie ist nicht gealtert, sie ist immer noch dieselbe«, sagte der Diener.
Dem jungen Mann war wunderlich zumute bei dem Gedanken, daß seine Angebetete in Wirklichkeit eine alte Frau sein sollte, und er wollte es nicht glauben. Von Unruhe getrieben, die einem Fieber glich, zog er, nachdem er dem Diener geholfen hatte, den toten Herzog wegzubringen, weiter zu Zambinellas Haus. Auch dieses Mal stieg er über die Mauer und schlich durch den Garten zu dem kleinen Palast. Er entdeckte einen kleinen Eingang auf der anderen Seite, dessen Tür nicht verschlossen war.
Der Jüngling kam in eine Küche. Ein Feuer brannte im Ofen, und die alte Frau wandte ihm den Rücken zu und bereitete eine Mahlzeit. Auf einem Tablett standen schon eine Weinflasche und ein Glas. Ohne daß die Frau ihn bemerkte, schlich der junge Mann sich lautlos zu einer Tür, die zu einem Korridor zu führen schien, und lief die Treppe hinauf in den zweiten Stock, aus dem der Gesang gekommen war, als er das letzte Mal hier gewesen war. Er öffnete einige Türen und sah Gästezimmer mit Himmelbetten, in denen die Spinnweben wie Vorhänge hingen und der Staub wie ein Teppich den Boden bedeckte, bis er schließlich ein sauberes Zimmer fand, in dem verschiedene Kleidungsstücke verstreut lagen wie in einer Theatergarderobe vor der Vorstellung. Er ging hinein und wartete. Inzwischen untersuchte er die herumliegenden Sachen und fand Masken und Perücken, Männer- und Frauenkleider der unterschiedlichsten Stile und Epochen. Und in der Mitte der einen Wand stand ein Toilettentisch mit drei Spiegeln und einer Menge von Töpfen und Pinseln. Das Herz klopfte ihm wild in der Brust, als er auf der Treppe Schritte hörte, begleitet von einem munteren Trällern. Es gelang ihm gerade noch, sich in einem offenstehenden Schrank zu verstecken, bevor die Tür geöffnet wurde und sie hereinkam. Sie war bezaubernd. Immer noch trällernd, ging sie zum Spiegel und begann