Der elfte Tag. Enel Melberg
ahmte sie nach, machte aber keinerlei Anstalten, das Gewünschte zu holen.
»Eine Unverschämtheit!« Die Baronin hatte rote Flecken am Hals. »So etwas habe ich ja noch nie erlebt! So ein freches Ding!« Sie wandte sich keuchend an Vita: »Ich gebe es auf. Das ist mir zuviel! Glauben Sie, daß Sie etwas erreichen?«
»Ich will mal sehen«, antwortete Vita, ging auf das Mädchen zu, faßte es unters Kinn und schaute ihm in die Augen. Dann ließ sie los, und das Mädchen lief errötend ins Haus.
Karen fächelte sich mit einem alten Theaterprogramm, das sie in ihrer Handtasche gefunden hatte, Luft zu. Jemand trat auf die Terrasse hinaus, aber es war nicht die Bedienstete, sondern ein großer, magerer Mann, der seinen Hut über ein Auge gezogen hatte und eine Pelerine über den Schultern trug. Wie viele hochgewachsene Menschen ging er etwas gebeugt.
»Ein Mann!« riefen Anne und Charlotte gleichzeitig aus.
»Wie schön für euch«, fauchte Emily.
»Was soll das nun bedeuten?« fragte Virginia, die eine ganze Weile schweigend und abwesend dagesessen hatte. Ihre Augen blinzelten schlaftrunken.
Der Mann war weder jung noch alt, weder häßlich noch schön, und er sah weder reich noch arm aus. Die ganze Gestalt hatte etwas Vages. Aber seine grauen Augen schauten klar und ehrlich, als er auf Virginias Tisch zuschritt, sich verbeugte und sagte:
»Gestatten Sie? Mein Name ist Ernst Ahlgren. Ein Schriftstellerkollege. Darf ich bei Ihnen Platz nehmen?«
»Aber gerne«, antwortete Virginia.
»Nein, was soll denn das?« sagte Vita zu Karen. »Was hat der Kerl hier zu suchen?«
Karen lächelte geheimnisvoll und meinte, daß dieser unerwartete Zugang interessant sein könne. Sie bedauere nur, daß es nirgendwo einen Spiegel gebe. Erneut stöberte sie in ihrer Handtasche, fand aber weder Spiegel noch Zigaretten, nach denen es sie in diesem Moment sehr verlangte.
Offenbar voneinander absorbiert, waren Ernst und Virginia in ein Gespräch vertieft. Bruchstücke davon gelangten zu den anderen. Wörter wie »Schwesternseele« und »Arbeit«, »moralischer Halt« und »Wahrheit der Gefühle« waren zu vernehmen, und plötzlich hörte Vita, wie der Mann bat, Virginia küssen zu dürfen. Diese zuckte zusammen, aber als er ihr versicherte, daß er einen geschwisterlichen Kuß meine, gab sie schüchtern nach. Vita schnaubte:
»Julian war ein besserer Kavalier, er hatte mehr Anmut und Glut als dieses Milchgesicht!« Sie stand demonstrativ auf und ging hoch erhobenen Hauptes auf das Haus zu.
Virginia schien es nicht zu bemerken. Karen wühlte immer noch in ihrer Handtasche, und die Schwestern Brontë flüsterten miteinander.
»Ich finde ihn ziemlich elegant«, meinte Anne.
»Oh ja«, sagte Emily, »auf jeden Fall besser als eure Hilfsprediger.«
»Er sieht achtbar aus, irgendwie aufrecht und ehrlich«, fand Charlotte. »Aber Anne, du frierst doch wohl nicht«, wandte sie sich plötzlich an die Schwester.
»Nein, nein«, antwortete diese.
»Du weißt, daß ich mich um dich sorge.«
»Ja doch, liebe Charlotte, das weiß ich. Und ich werde nie vergessen, daß du mich ans Meer gebracht hast, ehe ich starb. Daß ich das noch erleben durfte, dafür bin ich dir ewig dankbar.«
»Das war das mindeste, was ich tun konnte. Ich hätte alles für dich getan. Und für dich auch, Emily, das weißt du.«
Emily schüttelte unwillig ihre dunklen Locken, schaute in den Nebel und murmelte etwas Zustimmendes.
»Aber ich durfte ja nicht!« Charlotte klang plötzlich bitter.
»Fang jetzt nicht schon wieder damit an!« sagte Emily, aber Charlotte beharrte:
»Ich durfte dich nicht einmal zu einem Arzt bringen. Wenn du mich nur das hättest tun lassen, dann wärst du mir vielleicht noch ein bißchen länger geblieben. Ich hatte ja sonst niemanden, nur Vater, und der war mit sich selbst beschäftigt.«
»Ich hatte vielleicht kein Interesse daran, noch länger zu bleiben«, unterbrach Emily sie.
»Nein, du hast nur an dich gedacht!«
Emily lachte.
»Und du hattest wieder etwas Neues, worüber du schreiben konntest.«
»Trauer und Einsamkeit«, sagte Charlotte.
Emily warf den Kopf in den Nacken:
»Das ist wohl nicht das Schlechteste. Ich finde übrigens, daß Shirley deine spannendste Hauptfigur ist.«
Jetzt wurde Charlotte wirklich ärgerlich. Ihre kleine, unscheinbare Gestalt wuchs, die Augen blitzten, die Wangen glühten, und das Haar stand um ihren Kopf wie ein Heiligenschein.
»Weil Shirley ein Porträt von dir ist«, rief sie. »Das ist typisch für dich!«
»Sie ist auf jeden Fall keine Gouvernante«, murmelte Emily etwas milder.
»Nein, und was ist bitte schön verkehrt an Gouvernanten?« zischte Charlotte.
Anne trat zwischen die beiden.
»Jetzt warst du gemein, Emily.«
»Gouvernanten und Hilfsprediger, das ist alles, was euch einfällt«, sagte Emily unbarmherzig.
»Ich möchte kein schlechtes Wort mehr über Hilfsprediger hören«, sagte Charlotte und stampfte mit ihrem kleinen Fuß auf. »Hast du das verstanden! Im übrigen sind nicht alle gleich.«
»Nicht gleich pickelig«, konnte Emily sich nicht verkneifen zu antworten. »Aber verzeih, wenn ich auf den ehelichen Zeh getreten bin. Ich hatte ganz vergessen, daß du deinen Hilfsprediger am Ende ja bekommen hast, und auch das Liebespfand unterm Herzen.«
»Warum bist du so grausam?« Charlottes Mund zuckte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Ich kann niemals so grausam sein wie die sogenannte Wirklichkeit«, antwortete Emily. »Das Liebespfand hat dich das Leben gekostet. Das ist die wahre Grausamkeit.«
»Aber du mußt mich offenbar daran erinnern«, sagte Charlotte.
Jetzt unterbrach Anne sie:
»Warum streitet ihr euch eigentlich! Denkt lieber einmal an mich.«
»Das hat gerade noch gefehlt«, wandten sich beide Schwestern ihr zu. »Haben wir nicht immerzu an dich gedacht?«
»Was meint ihr, wie es war, die jüngste Schwester Brontë zu sein?«
»Du warst die liebreizendste«, sagte Charlotte. »Dir sind die Angriffe der Kritiker gegen das ›Unweibliche‹ in unseren Büchern erspart geblieben. Wir haben weiß Gott genug zu hören bekommen über unsere ›Bitterkeit‹, unseren ›Zorn‹, unsere ›Schwarzseherei‹.«
»Ja, dir ist es erspart geblieben, ihrer Angst vor den dunklen Kräften gegenüberzustehen«, ergänzte Emily verächtlich. »Nein, tausendmal lieber eine Hölle, in der es knistert und brennt und glüht, als ihre gepflegten Paradiesgärten.«
Karen, die dem Streit der Schwestern interessiert zugehört hatte, applaudierte bei der letzten Replik.
»So ist es gut, Mädchen«, sagte sie. »So muß es sein!« Sie wandte sich aufmunternd an Emily und fragte sie, ob sie nicht von ihrer paradiesischen Hölle erzählen wolle, aber Emily drehte ihr mit einem störrischen Nein den Rücken zu.
Charlotte versuchte, ihre Unhöflichkeit herunterzuspielen:
»So ist sie immer!«
Plötzlich heulte es hinter dem Haus, es knackte und krachte, als ob sich die gefesselten Kräfte eines rasenden Dämons befreiten, in einem gewaltigen Brausen, das über das Dach hinwegfuhr und dann über den Felsen stürzte, ein Sturm brüllte, Blätter, Röcke, Haare wurden emporgewirbelt. Eine winterliche Kühle brach über die