Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2020. Jürgen Thaler

Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2020 - Jürgen Thaler


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Freundinnen und Freunde Franz Michael Felders, verehrte Stützen und Förderinnen und Förderer von Vorarlbergs Kultur- und Geistesleben!

      Zum Auftakt

      Als mich Norbert Häfele zu dieser Rede einlud, konnte er nicht von meiner Felderkenntnis ausgehen. Somit fühle ich mich bezüglich der Ausrichtung meines Vortrags frei. Außer im Feld der Architektur ist es mir nicht mehr möglich, thematischen Wünschen zu folgen. Ich möchte mich den in mir drängenden Themen widmen und suche den Zusammenhang und die logische Reihung versprengter Gedanken. Gesprochenes und Geschriebenes bleiben bei mir im Umfang bescheiden. Damit bin ich versöhnt. Umso mehr, als ich ohnehin mutmaße: Wir schreiben zu viel und lesen zu viel, wir reden zu viel, wir konsumieren zu viel. Und … wir meinen und werten zu viel. Vor allem aber denken wir zu viel, zu viele jener Gedanken, die uns haben anstatt wir sie.

      Franz Michael Felders Werk bin ich spät begegnet. Das hat mit einer Störung meiner Schulkarriere zu tun. Ich sage es ungeschönt: mit meinem Lehrer, einem Altnazi und gewalttätigen Schläger, der mich und andere prügelte, Neunjährige salutieren und marschieren ließ, mich mit einem Schultrauma und ohne Berechtigung fürs Gymnasium entließ. Mein Weg zum Architekten führte somit über die Hochbau-HTL in Krems an der Donau. Zum dortigen, überaus beherzten Deutschlehrer drang Felder nicht durch. Dank einer glücklichen Fügung stieß ich in Wien als Student der Kunstakademie auf Felders Bedeutung. Friedrich Achleitner erwähnte Felders Arbeit im Rahmen einer Vorlesung zur damals neuen Architektur Vorarlbergs besonders anerkennend. Das Prädikat „Weltliteratur“ im Zusammenhang mit Felder und Vorarlbergs vielversprechende Baukünstler verpassten meinem unterversorgten Vorarlberger Selbstwert einen kräftigen Auftrieb.

      Das Aufmaß des Reichs

      Franz Michael Felders Welt und Lebenswirklichkeit waren mir lange vor der Lektüre seines Werks vertraut. Die Kenntnis architektonischer Codes lässt einen aus Land-, Stadt- und Parzellenplänen Herrschaftsverhältnisse, Lebens- und Wirtschaftsformen „lesen“.

      Es war ein Habsburger, der in weltweit einmaliger Weitsicht sein Reich zu Zwecken der Besteuerung vermessen ließ, einzigartige Plandokumente sowie das Fundament unseres Grundbuchs schuf. Das Aufmaß Vorarlbergs datiert exakt zu Felders Lebenszeit. Der Franziszeische Kataster ist eine historische Fundgrube der Sonderklasse und obendrein ein ästhetisches Vergnügen. Die verfertigten Mappenblätter eröffnen Rückschlüsse auf die Wirtschaftsform und Leistungsfähigkeit einzelner Bauern, auf ihre Vermögens- und Familienverhältnisse, auf die Stellung Einzelner in der Gemeinschaft, auf soziale Strukturen in Dorfgemeinschaften und deren Hierarchien. Beispielsweise verrät das Parzellengefüge das ganze Wohl und Weh des Erbrechts und damit wiederum viel von der Lebensfähigkeit der Gehöfte, die etwa durch Vorarlbergs Realteilung immer wieder auf eine harte Probe gestellt wurde. Ergänzt durch historische Stiche oder Fotografien erschließt der Franziszeische Kataster somit die Biographie ganzer Regionen.

      Mit dem Leben und Wirtschaften am Land beginne ich mit einem mich ein Leben lang begleitenden und bewegenden Thema, das durch meine Rückkehr in den Vorderwälder Ort, an dem ich ab 1980 mit meiner Familie sechzehn Jahre lebte, erneuert mein Interesse gewinnt. Im Salzkammergut meiner Kindheit erlebte ich während der Sommerfrische in der Hauswirtschaft, im Gartenbau, in der Werkstatt und in den Dorfverhältnissen meiner Großeltern noch die Reste der alten Vielfalt, Fülle, Logik und Poesie eines Daseins am Land und dessen Einheit mit der Natur und dem Sein. Zudem erklärt das Privileg, den wenigen Architekten anzugehören, die durch die Planung von Landwirtschaftsbetrieben den Verhältnissen bäuerlicher Existenz nahekamen, mein Interesse an der Landwirtschaft und meine Suche nach einem erneuerten Ausgleich zwischen Nachhaltigkeit und Schönheit.

      Landbau und Landleben

      Heute sind Land und Landschaft die Gestalt gewordene Ignoranz ökologischer Zusammenhänge und ästhetischer Fühllosigkeit, das Ergebnis wirtschaftlicher Gier und verlorener Liebe zur Schöpfung.

      Fotografien von Vorarlbergs Rheintal zum Ende des 19. Jahrhunderts lassen Ortschaften kaum erkennen, sie lagen versteckt in Obstbaumhainen. Während der großen Depression der 1930er Jahre reiste meine Großmutter in 22-stündiger Zugfahrt aus dem Salzkammergut ins Rheintal, um dort ihren Rucksack und zwei große Taschen mit Obst zu füllen.

      In meinem Vorderwälder Ortsteil, von dessen zwanzig historisch belegbaren Höfen aktuell zwei eine Zukunft haben, wurden die letzten Obstbaumreste von den heurigen Februarstürmen weggefegt. Wohin, ließe sich fragen.

      Ein Südtiroler Apfelbauer hat mir sein Leid geklagt. Derzeit erlöse er nur noch 10 bis 17 Cent für ein Kilo Golden Delicious. Sie wissen, dass wir für ein Kilo Äpfel teils das Dreißigfache bezahlen? Wo bleiben die Gewinne? Denn selbst ihre schäbigen Prozente haben die Bauern mit Düngemittel- und Maschinenproduzenten zu teilen. Der Handel forciert gewisse Sorten, und wenn sich deren Hype verbraucht, beginnt in Südtirol der Kahlschlag. Riesige Plantagen werden aktuell gerodet, um eine neue Sorte anzubauen. Sie können sich jetzt schon gefasst machen, in Kürze werden wir im Apfelregal des Supermarkts auf den Shinano Gold treffen. Die Unbill wurde neu gekleidet. Gemäß Bert Brechts Feststellung, dass der Wahnsinn unsichtbar wird, sobald sein Ausmaß groß genug ist, wurden die „Käsegrafen“ zahl-, namenlos und unsichtbar. Und je ferner die konkreten Produktionsverhältnisse unserem Blickfeld rücken, umso brutaler wird ihr Vergehen an Mensch und Natur.

      Nachdem mein Sohn Lukas im Rahmen seines Zivildienstes in Ecuador die Lebensumstände dortiger Bauern mitverfolgte, drängt er auf den Kauf von Fair-trade-Bananen. Und nachdem er im Zuge von Dreharbeiten Schlachthöfe und fleischverarbeitende Betriebe von innen gesehen hat, isst er kein Fleisch mehr.

      Das historische Landwirtschaftsmodell

      Lassen Sie mich darstellen, was sich 1783 ein in den Alterssitz weichender Bauer im salzburgischen Flachgau zur alljährlichen Unterhaltssicherung vom Hofübernehmer ausbedungen hat:

      Je nach Region kamen Kartoffeln, Tees, Kräuter, Honig, Säfte, Most oder Wein und Schnäpse dazu.

      Vier Tiergattungen, deren Produkte und Verwertung, verschiedenste Getreidearten, Gemüse- und Obstsorten, die Gewinnung von Brenn- und Bauholz, die Formen der Lagerung und Konservierung haben die ländliche Wirtschaftsweise und den Tageslauf bestimmt, die Zyklen und Rhythmen des Lebens und das Bild des Landes.

      Bitte werfen Sie auch einen Blick auf die ästhetische Dimension solcher Verhältnisse, vergegenwärtigen Sie sich die Gestalt der Landschaft und der Dörfer als Folge solchen Haushaltens. Deren Vielfalt und Schönheit folgten nicht


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