Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2020. Jürgen Thaler

Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2020 - Jürgen Thaler


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zu werden statt bewusst zu ihm vorzudringen.

      Den Prototypus verflachten Innenlebens und eines sich selbst fremd gewordenen Menschen hat Stefan Zweig in der Figur des Baron Friedrich Michael von R… geschaffen, der bei sich bemerkt:

      Oft erstaunt mich, mit welcher Ausdauer sich mancher Intellektuelle an ohnehin jederzeit ersetzbaren Mächtigen, Verführern und Manipulatoren in Politik und Wirtschaft abarbeitet, an deren moralischer Halt- und Orientierungslosigkeit, ohne das grundlegendere Dilemma zu benennen.

      Von mangelnder Anteilnahme sind auch die Struktur und das Bild unserer Städte und Dörfer geschunden. Wie wäre anders erklärbar, dass kein Schrei von uns ausgeht angesichts einer Hässlichkeit, zu der sich in unserer Geschichte kein Vergleich finden lässt? Monoton, fantasie- und endlos gleich ist die effizienzgetrimmte Stadtgestalt jedem Einklang mit Menschen überdrüssig. Sie lässt keinen Ort, kein Dorf und erst recht keine Stadt entstehen und gibt keiner Begegnung oder Gemeinschaft Struktur und Zuhause.

      Zeitgleich hat sich der Landbau im Sog des Marktes von seiner Tradition verabschiedet, tatkräftig unterstützt auch von Bauern, ihren Beratern und Vertretern. Ohne Respekt und Sinn für die Kultur der Land- und Bodenpflege, befreit vom Blick auf die Folgen des eigenen Tuns, ohne Perspektive und Vision und ohne Mitgefühl gegenüber dem unermesslichen Leid in den Tierfabriken, hat der älteste und elementarste Wirtschaftszweig seine Bestimmung pervertiert.

      Und doch, auch wenn mich über Jahre die Frage sorgte, wie meine Studierenden, ohne dem historischen Modell ländlicher Lebens- und Wirtschaftsweise persönlich je begegnet zu sein, neu eine nachhaltige Architektur und Lebensweise entwickeln können: Heute gärtnern viele von ihnen – selbst in beengten und urbanen Räumen –, sie bauen selbst an ihrem Zuhause und verweigern sich dem verordneten Leistungszwang. Das sinnliche, körperlich konkrete Tun und Erfahren erlebt Zuspruch. Landwirte und Handwerker erzählen mir von Studierenden und Akademikern, die sich um Praxisplätze bewerben. Selbst Hofübernahmen bleiben nicht mehr am Letzten hängen, zunehmend interessieren sich die am besten Ausgebildeten dafür. Und ebenso nimmt die Zahl der Bäuerinnen und Bauern zu, deren Eigenversorgung zum Auftakt ihrer wachsenden Produktpalette wird.

      Wer sich selbst fremd bleibt, wird fremdbestimmt

      Während der vielen Jahre meiner regelmäßigen Zugreisen zwischen Linz und Bregenz fiel manche Fahrt auf einen Samstagvormittag – die verlässlich ruhigste Reisezeit der Woche. Häufig teilte ich einen Großraumwaggon mit nur drei oder vier Mitreisenden. Dabei beobachtete ich wiederholt, wie neu Zugestiegene hundert freie, bessere Plätze, fußfrei und mit Tisch, ignorierten, um programmiert und fremdgesteuert von ihrer Platzreservierung den schlechtesten Platz zu wählen – hinein in eine enge Zeile, vor die Fensterkonsole und mit dem Rücken zur Fahrtrichtung!

      Wenn der Kontakt zur Situation und zu sich selbst fehlt, finden weder die Umstände eines Orts noch die eigenen Bedürfnisse zu ihrem Recht, weder die inneren noch die äußeren Bedingungen. Wer sich aber selbst fremd bleibt, wird fremdbestimmt, ist offen für Verführung und fremde Führung. Das wirkt sich fatal auf Individuum und Gemeinschaft aus – und auf die Demokratie, denn was diese legitimiert und mit Leben füllt, sind Weltzugewandtheit, Anteilnahme und die Urteilsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger.

      Es sind diese Ferne zu den Dingen und unsere Fühllosigkeit, die uns stumm bleiben lassen vor dem Rückzug der Demokratie, der Verrohung der Sprache und dem Monogrün unserer sogenannten Wiesen, die uns untätig sein lassen angesichts der unfassbaren Banalisierung der städtischen Peripherien, des Insekten- und Vogelschwunds und des maßlosen Leids in Flüchtlingslagern.

      Kaum treffender sind die Verhältnisse zu charakterisieren als mit dem vom 27. Februar 2014 aus Moskau überlieferten Geschehen: Nachdem sich nicht mehr geheim halten ließ, dass das Parlament der Krim gewaltsam besetzt worden war, stand die Frage im Raum: Gibt es Krieg? Unsicherheit und Angst waren zum Greifen, Hotelgäste wurden aufgefordert, die weitere Entwicklung im Haus abzuwarten. Ungläubig und verzweifelt war deren Reaktion: „Heißt das, wir können nicht shoppen gehen?“

      Eingenommen von der eigenen Unersättlichkeit und der des Marktes,

      im Hinterhalt der Werbung brainwashed,

      verloren in virtuellen Welten,

      gebannt von der Sorge um die eigene Existenz,

      vom Kompensationsbedürfnis erlebter Bedeutungslosigkeit getrieben,

      aufgelöst im Sog großer Ideen,

      geblendet vom eigenen Wertemaßstab

      und von Vorurteilen konditioniert,

      bedrängt von Zielen und Ansprüchen,

      im Fluchtreflex vor den misslichen Seiten des Lebens verheddert,

      vereinnahmt von Selbstmitleid

      oder versunken in Resignation,

      wirr von medialer Dauerbeflutung,

      vom Hass gegen fremdes Sein verzehrt,

      von fremden Imponiergesten eingeschüchtert,

      außer Atem gesetzt vom eigenen Stress,

      von Ehrgeiz gejagt,

      besetzt von Sehnsüchten und Gefühlsüberschwang und

      gezerrt vom Hang und Zwang zur Weltverbesserung,

      vom Aufmerksamkeitsgeheische ermüdet,

      angestiftet von der Emotionalisierungswut des Boulevards,

      absorbiert von faszinierenden Entdeckungen,

      gefangen gehalten in Konzepten

      und in Ideologien verrannt,

      erschöpft von Ersatzhandlungen,

      im Füllen innerer Leere ausgebrannt,

      abgetaucht in der Permanentunterhaltung,

      besessen von Verschwörungsfantasien,

      elektrisiert vom Kitzel des Risikos,

      vom eigenen Erfolg betört oder

      gelähmt von der Angst, auf der Strecke zu bleiben,

      geblendet von vermeintlicher oder echter Bedeutung,

      und beherrscht vom ewigen „nicht genug“.

      In der Gefangenschaft unserer persönlichen Konditionierung sind wir von uns selbst und von der Welt getrennt, von der Tiefe und Breite der Empfindungen, die das Leben intensiv machen und reich.

      Ich spreche nicht von „den anderen“, sondern von mir und dem eigenen Erleben. Und ich nehme mich selbst nicht aus. Eine meiner Fallen liegt in einer Aufmerksamkeit, die mir meist zwei oder drei Schritte vorauseilt und sich nur widerstrebend einfangen lässt.


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