Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2020. Jürgen Thaler
Ich war acht Jahre alt, als unser Lehrer Herr Schneider ab Dreikönig allmorgendlich die sich ändernde Uhrzeit, zu der die Morgensonne über dem Pfänder aufblitzte, an den linken Rand der Tafel schrieb. Diese stattliche, nüchterne Zahlenreihe ist noch heute von Begeisterung und meinem Staunen derart geladen, dass sie sich als Bild von Wandel und Wiederkehr tief und warm in meine Erinnerung gegraben hat.
Im Lichtkegel unserer Aufmerksamkeit wachsen Verantwortung und Verstehen. Sorgfältige Hinwendung und absichtsloses Wohlwollen lassen Leben erblühen: Seelen, Kinder, Gärten und die Welt.
Es ist diese Welt- und Daseinsnähe, die mir Franz Michael Felder so faszinierend macht, seine Wachsamkeit gegenüber sich selbst und der Welt, sein umfassendes und sentimentalitätsfreies Mitgefühl mit aller Existenz, seine unerschütterliche Klarheit im Benennen von Unrecht, seine ungebrochene Wahrheitsliebe. Bei Franz Michael Felder standen Theorie und Praxis, Denken und Tun in befruchtender Wechselwirkung. Trotz der vielen Grobheiten seines Schicksals, beständigen Leids und eines viel zu frühen Sterbens, das sich einem roten Faden gleich durch sein Leben zog, war Felder ein „im Leben Angekommener“. Darin, dass Franz Michael Felder zudem Ort, Zeit und die eigene Existenz und Empfindung so vollkommen zum Ausdruck zu bringen vermochte, liegt seine Bedeutung. Vielleicht heute mehr denn je. Und wir hier sollten uns gewahr sein, dass auch Lesen ein Leben aus zweiter Hand ist.
Ich danke für die Einladung und für die Zeit und Aufmerksamkeit, die Sie meinen Gedanken geschenkt haben.
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1 „Subsistenzwirtschaft oder Bedarfswirtschaft werden alle – vorwiegend landwirtschaftlichen – Wirtschaftsformen genannt, deren Produktionsziel weitestgehend die Selbstversorgung zur Sicherstellung des Lebensunterhaltes einer Familie oder einer kleinen Gemeinschaft ist. Subsistenzwirtschaft umfasst auch die Erträge aus Jagen und Sammeln. […] Bei der traditionellen Subsistenzstrategie besteht keine Marktorientierung, keine ausgeprägte Arbeitsteilung und kein Profitstreben.“ Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Subsistenzwirtschaft [letzter Zugriff: 6.5.2020].
2 Michael Becker und Monika Brunner-Gaurek: Führer durch das Salzburger Freilichtmuseum. Salzburger Freilichtmuseum: Großgmain 2011 (= Veröffentlichung des Salzburger Freilichtmuseums; Bd. 18), S. 89.
3 Elias Canetti: Macht und Überleben (1962). In: Ders.: Das Gewissen der Worte. Essays. Frankfurt am Main: S. Fischer 1995, S. 25 – 41, hier S. 25.
4 Lao Tse: Spruch 45. In: Ders.: Tao-Te-King. In der Übersetzung von Hans J. Knospe und Odette Brändli. Zürich: Diogenes 1990, [o. P.].
5 Luigi Pirandello: Die Riesen vom Berge. Die Mythen und andere späte Stücke. Aus dem Italienischen übersetzt von Georg Richert. Mit einem Nachwort von Michael Roessner. Berlin: Propyläen 1997 (= Gesammelte Werke; Bd. 2), S. 273 – 343, hier S. 305.
6 Stefan Zweig: Phantastische Nacht. Novelle. Göttingen: LIWI Literatur- und Wissenschaftsverlag 2019, S. 8.
7 Hugo von Hofmannsthal: Lucidor. Figuren zu einer ungeschriebenen Komödie. In: Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch (Hg.): Hugo von Hofmannsthal. Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band: Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen. Frankfurt am Main: S. Fischer 1986, S. 173 – 186, hier S. 176.
BARBARA GLAUERT-HESSE
Yvan Goll.
Unveröffentlichte Gedichte und Tagebücher 1918 – 1940
Aus dem Nachlass von
Robert Warnebold
Gedichte 1918 – 1930
Abstieg
Jung schwang ich mich empor
Im Knochengebirg
Nach Göttern zu graben:
Viele Väter vor mir
Viele Söhne nach mir
Lockt der Granit.
Zum Übermut.
Doch bald
Wirft sie’s zurück
In leuchtendes Vergessen:
Rasch mit dem Wasserfall
Reisst sie’s hinab – –
Weise vom Sturz
Reich vom Verlust
Such ich die Menschen
Die ich zurückliess:
Ruhig
Erwart ich ihre dunkle Karawane
Ihre langsame
Karawane
Am Hügel lehnend
Den Kopf im roten Klee
Und – mit den Füssen im Bach
Des Himmels Bild
Zerschlagend
*
Und wende mich um
Ein Mensch unter Menschen
Von all dem Treiben
Nur einen roten Klee
Im Knopfloch
Bergwald
O Wald, du leuchtender lächelnder Freund
Mit grünem Moosbart
Von Sonne triefend und von Harz
Mit tausend Armen umarmend,
Mit tausend Händen verschwendend:
Ich brauche deine Güte!
Gib
Du Reichgeborener,
Goldäugiger, der wie ein Patriarch
Mit kleiner Erdbeerliebe sich umgibt
Und ein Ballett von Rehen unterhält
In der Waldmeisterlichtung –
Geheimniskundiger
Der mit den Wölfen und den Hexen verkehrt
Und greiser Eulen Weisheit lernte:
Du gib mir das Geleit
Bis ans Gebiet der Steine –
Und der Einsamkeit
Und zuversichtlicher
Beschreit ich dann den Weg
Des Einsamen.
Fels-Grat
Steig, steig
Und wär's umsonst!
Zehnmal gekreuzigt von der Sonne Nägeln
Und immer kleiner vor den Türen des Himmels
Du hängst am Rand der Erde – –
Und fehlt dein