Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2020. Jürgen Thaler

Jahrbuch Franz-Michael-Felder-Archiv 2020 - Jürgen Thaler


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Alleen, die einst die Gebiete der österreichisch-ungarischen Monarchie durchzogen, gehen auf Joseph II. zurück. Er verfügte, dass zur Marschverpflegung seiner Heere entlang von Landstraßen Obstbäume zu pflanzen sind. Regelmäßig schlenderte ich als Kind durch die Birnbaumallee, die das Haus meiner Großeltern mit dem Dorfzentrum verband. Sie wurde mir zur Lehrmeisterin von Raum und Poesie. Gründete ihre Schönheit gar auf einem militärstrategischen Motiv?

      Immer wenn politische Funktionäre die Forderung „Grenzen dicht“ erheben, möchte ich lautstark mit einstimmen: Ja, aber wirklich dicht! Zu gerne möchte ich erleben, wie dieselben Politikvertreter ihrer Klientel erklären, wieso uns keine Bananen und Orangen aus Afrika erreichen, kein arabischer Treibstoff aus den Zapfsäulen rinnt, wieso nicht nur in Gaststätten keiner, sondern nirgendwo Tabak zu bekommen ist, und warum im Kaffeehaus selbst der „Kleine Schwarze“ des Landes verwiesen bleibt.

      Sicherheitspolitik und Entfremdung

      Der einstige Generalstabschef Othmar Commenda benannte als ranghöchster Verteidiger Österreichs in seinen Vorträgen wiederholt den mangelnden Selbstversorgungsgrad als größtes Sicherheitsrisiko. Für Vorarlberg kenne ich Zahlen: Während wir bei Milch und Käse weit überversorgt sind, produzieren wir gerade einmal 7 % des Bedarfs an Gemüse, 6 % an Kartoffeln und 1 % des konsumierten Getreides. Auch wenn diese Verhältnisse in anderen Teilen Österreichs weniger krass sind, im Falle eines versiegenden Treibstoffnachschubs wären die Unterschiede, angesichts der allgemeinen Unkenntnis und des fehlenden Handgeräts gering.

      Wieso wird dieser Sachverhalt in allen politischen Debatten und Maßnahmen ausgespart? Wieso wird angesichts des gesellschaftlich prioritären Bedürfnisses nach Sicherheit das von Kriminellen, Terroristen und Asylanten gefährdete Eigentum und Leben als einzige Sicherheitsbedrohung suggeriert – selbst in den von Kriminaltaten am wenigsten betroffenen Regionen der Welt? Wieso stellen wir keine Verbindung her zwischen einer labilen Weltlage und dem Landbau als Sicherung unserer elementarsten Lebensgrundlage? Bedürfen wir der Autorität eines Generals oder müsste nicht ein wenig politische Bildung, ein Restbestand historischen Wissens ausreichen, um die diesbezüglichen Zusammenhänge zu verstehen?

      Eigentlich meine ich, ein Blick ins Land sollte genügen. Aber ohne Liebe scheint biologisches Wissen vergebens, und ohne Begeisterung bleibt ästhetische Erziehung folgenlos. Ich fürchte, das Wesentlichste lernen wir in der Schule nicht. (Wäre das Phänomen Franz Michael Felder anders erklärbar?) Zumeist bleiben die Inhalte formaler Bildung abstrakt, zu selten verknüpfen sie uns mit der konkreten Welt.

      Wäre es möglich, dass unsere Fremdheit gegenüber dem Land und seiner existenzsichernden Dimension mit etwas Größerem zu tun hat? Mit mangelnder Realitätswahrnehmung, mit fehlender „Bodenhaftung“, mit Ausweichmanövern vor dem „mit der Hand zu Greifenden“? Könnte Elias Canetti diese Wirklichkeitsverdrängung gemeint haben, als er formulierte:

      Nicht bei sich und nicht bei der Sache

      Vor etwa 25 Jahren besuchte uns ein befreundetes Ehepaar inklusive Schwester beziehungsweise Schwägerin – eine US-amerikanische Ernährungsberaterin. Deren Aufgabe bestand in der Unterstützung junger Mütter bei der Versorgung ihrer Babys. Ihre Schilderungen haben mich sensibilisiert für einen bestürzenden Sachverhalt: Sie erzählte von Klientinnen, die Neugeborene ausschließlich mit Zucker füttern, und von solchen, die ihren Babys steinharte, in Öl angeröstete Nudeln kredenzen, weil sie nicht wissen, dass Nudeln gekocht werden müssen.

      Die Grundform dieser Realitätsferne und Weltfremdheit ist die Unverbundenheit mit sich und der Welt, mit Orten, Bedingungen und Situationen, und ein mangelndes Wahrnehmen der eigenen Empfindung.

      Als Architekt sind mir Menschen begegnet, die erst nach Bezug ihrer neuen Wohnung feststellen mussten, dass im Norden keine Sonne scheint. Als vor Jahren Übereckbadewannen hoch im Kurs waren, erzählte mir ein Wohnungsverkäufer, eine dieser Wannen im Verkaufsplan erspare ihm nervende Fragen und Diskussionen – wohl zu jenen Themen, die an Kernfragen des Wohnens gingen.

      Dieses Nicht-bei-sich- und Nicht-bei-der-Sache-Sein, die Fremdheit gegenüber konkreten Situationen und Verhältnissen ist kein schichtspezifisches Phänomen, auch kein Ausdruck fehlender formaler Bildung. Nicht selten habe ich im akademischen Umfeld der geerdeten Intelligenz mancher Handwerker gedacht. Eine Studentin erzählte mir von ihrem Professor, einem hoch dekorierten Juristen und Inhaber eines renommierten Lehrstuhls. Dieser trug immer ein Thermometer mit sich, und dieses Messgerät befand über das Maß seiner Bekleidung, selbst im Hörsaal befahl es: Sakko aus!, oder: Sakko an!

      Dass unser Temperaturempfinden auch von der Luftbewegung oder der Oberflächentemperatur der Umgebungswände, von Zugluft und Strahlungsenergie abhängt, muss man nicht wissen, würde man jedoch, hätte der Physikunterricht eine Verbindung zu unserem alltäglichen Leben hergestellt. Jedoch: Dass unser Maß an Schlaf oder Bewegung über unseren Wärmehaushalt mitentscheidet, sollte die Erfahrung lehren. Aber was zählt schon eigene Erfahrung, wenn der Blick auf ein Messinstrument oder die Mode körperliche Empfindung ersetzen und man wärmegestresst die Fenster aufreißt, selbst wenn es draußen um sechs Grad heißer ist. Irritiert müssen wir feststellen, dass Selbstwahrnehmung zu den aussterbenden Gütern zählt und Fachkompetenz nicht zu Selbst- und Weltverhältnis führt.

      Es fehlt uns an Intelligenz der Verbundenheit mit dem Konkreten und Nächstliegenden. Es mangelt uns am Verstehen, aus dem Verständnis wächst. Wir leiden an unterentwickelter emotionaler Kompetenz und Empathie – auch der sogenannten Eliten.

      Die Mode hat Entfremdung zur Marke gemacht und die Werbung hat sie zur Stilform erhoben. Und beide lassen uns unablässig wissen, dass wir nicht genügen. Als primäre Triebkraft des Wachstums höchstinstanzlich legitimiert, hebeln die psychologische Gerissenheit der Werbung und ihre dreiste Verheißung jedes Bildungsbemühen schamlos aus.

      Erklärt sich daraus die erstaunliche Karriere der Wörter „Hier“ und „Jetzt“? Was sich aus östlicher Tradition ableitet, können wir durchaus mit uns kulturell vertrauteren Begriffen benennen: „Innehalten“ etwa. Geht es dabei doch gerade darum, den Kontakt mit dem Augenblick und dem Ort, die Bewusstheit für Zeit und Raum zurückzugewinnen.

      Mein Freund C. T. liebt es, eine Begegnung mit der Frage zu eröffnen: „Was ist gerade in dir lebendig?“ Er erzählt mir, dass diese Nachfrage den Menschen als Zumutung erscheint, dass sie darauf verstört oder verärgert regieren. Ist es ungehörig, ernsthaftes Interesse am Befinden des Gegenübers zu bekunden? Ist deshalb ein interessiertes „Wie geht es dir?“ im schnellen „Wie geht’s?“


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