Die Marmortaube. Søren Jakobsen
Brannte Licht im Palais von Christian IX., war die königliche Familie zu Hause, und konnte er Lene erzählen, daß er auf sie aufpassen mußte?
Das Palais war dunkel. Margarethe und Henrik hatten wohl genug von all den Touristen, die in dem neuen Park hinter dem Schloß herumrannten und sich auf die Mauern stellten, um wenigstens einen kurzen Blick auf die Regentenfamilie zu werfen. Vom höchsten Punkt des Parks aus konnte man genau in die Bel-Etage des Schlosses gucken.
Wenn man zwischen einer Reihe schöner Schlösser wählen kann, läßt sich nichts dagegen sagen, daß man ab und zu umzieht, um sein Privatleben ungestört von aller Öffentlichkeit genießen zu können. An diesem Abend gefiel das dem treuen Untertan Søndergaard gar nicht. Die Möglichkeit, sich interessant zu machen, war dahin. Er mußte sich abreagieren.
Aber jeder Versuch, sich zu unterhalten, war aussichtslos. Zu laut dröhnten die Reifen auf dem Kopfsteinpflaster. Søndergaard gab trotzdem nicht auf.
»Was ist?« Petersen hatte nur mitbekommen, daß Søndergaard über Prinz Henrik redete.
Søndergaard wandte ihm den Kopf zu, es gelang ihm aber nicht mehr, seine Meinung über den Prinzen zu wiederholen. Über Sprechfunk kam eine Meldung.
»023, bitte kommen ... bitte kommen«, forderte der Funker des 2. Reviers.
Petersen fischte das Mikrophon aus der Halterung.
»Hier 023, Amalienborg Slotsplads.«
»023, bitte fahren Sie sofort zur Marmorkirche. Dort sollen Schüsse gefallen sein.«
»Verstanden.«
Søndergaard schaltete Sirene und Blaulicht ein und trat aufs Gas.
Das gellende Heulen brach sich zwischen den Sandsteinmauern des Schlosses und überrumpelte den wachhabenden Gardesoldaten, der beinahe sein Gewehr mit dem aufgepflanzten Bajonett fallen ließ.
»Bestimmt irgendwelche Jugendliche, die Knaller hinter einer Katze hergeschmissen haben.« Søndergaard sah seine Verabredung platzen.
Unfug, dachte Petersen. Du weißt genauso gut wie ich, daß es in diesem Viertel nicht einen Bewohner unter fünfzig gibt.
Die dumme Bemerkung paßte dennoch ausgezeichnet zum Stil ihres Einsatzes. Søndergaard und Petersen mußten höchsten 250 Meter weit fahren, doch bereits nach 75 Metern sprang eine Ampel auf Rot um. Søndergaard hatte gerade in den dritten Gang geschaltet. Er trat hart auf die Bremse, überlegte kurz und beschleunigte erneut. Alles in allem eine dramatische Vorstellung. Allerdings ohne Zuschauer, die sie hätten beeindrucken können. Zum Glück kam ihnen aus der Seitenstraße der Bredgade niemand entgegen, ein Unfall hätte sich kaum vermeiden lassen. Søndergaard fuhr mit aufheulendem Motor bei Rot über die Ampel.
Der Anblick der Kirche hatte einen beruhigenden Einfluß auf ihn. Als sie auf den Kirchplatz fuhren, stellte er Blaulicht und Sirene wieder ab. Der Platz war schlecht beleuchtet. Die Laternen waren mit grellen, städtischen Standardleuchtröhren bestückt, aber die mächtige, graphitgraue Kirche und die imponierenden Wohn- und Bürogebäude neutralisierten die blauvioletten Strahlenbündel des Kunstlichts. Die Dämmerung ist ein diffuser Feind; die Guerilla der Natur.
Søndergaard schaltete das Fernlicht ein, als er rechts abbog. Der Scheinwerfer erwischte ein frisches Graffiti an der Kirchenmauer:
›Menschen vor Profit!‹
Die Beamten kümmerten sich nicht um die schreiendrote Sprayschrift, sie hatten wichtigere Dinge zu tun, als diese Beleidigung des Gotteshauses zu beachten.
Søndergaard nahm das Gas zurück, sein Kollege kurbelte das Seitenfenster runter und suchte die dunklen Eingänge der Patrizierhäuser mit dem Dachscheinwerfer ab.
Am Eingang von Rotaprint war nichts zu bemerken. Auch nicht an den sogenannten Anwälteeingängen, wo die blankpolierten Messingschilder mit den Anwaltsnamen im Scheinwerferlicht aufblitzten.
Søndergaard und Petersen wurden langsam ruhiger. Gleich hatten sie die Hälfte des Platzes kontrolliert, in spätestens drei Minuten den gesamten Platz. Bestimmt falscher Alarm.
Vor der Nummer 7 versperrten parkende Autos den Blick auf den Bürgersteig. Søndergaard bremste und schaltete zurück in den ersten Gang. Von der Store Kongensgade bog ein Wagen auf den Kirchplatz, und einen kurzen Moment war Søndergaards Aufmerksamkeit abgelenkt, obwohl er wußte, daß er auf einer Einbahnstraße fuhr und der Wagen den entgegengesetzten Weg um die Kirche nehmen mußte.
Der Streifenwagen fuhr langsam an den beiden parkenden Autos vorbei.
»Halt an, verdammt noch mal, halt an, Kerl!« Der sonst so besonnene Petersen brüllte, seine Stimme überschlug sich fast.
Vor lauter Überraschung trat Søndergaard die Bremse durch und würgte den Motor ab. Verflucht!
Bevor er wenden konnte, um wenigstens etwas vom Fußweg zu sehen, war Petersen bereits aus dem Wagen. Er versperrte nun Søndergaard die Sicht, doch der Polizeiassistent glaubte, vor dem schmiedeeisernen Gitter etwas Helles zu erkennen. Ein paar helle Schuhsohlen und ein Bündel Kleider.
Petersen hatte mehr als genug gesehen. Er zog seine Walther mit einer Geschwindigkeit, als wollte er sich duellieren und ging hinter einem der parkenden Wagen, einem silbergrauen BMW der Generaldirektorenklasse, in Deckung.
»Deckung!« Petersens Schrei hallte auf dem Kirchplatz nach. Søndergaard öffnete die Fahrertür, rollte sich aus dem Wagen und duckte sich hinter das linke Vorderrad. Einige Sekunden war alles ruhig.
»Bleib in Deckung.«
Søndergaard mußte seine Pistole ziehen. Dem Lehrer der Polizeischule hätte die Zeit, die er dazu brauchte, gar nicht gefallen. Seine Finger waren nervös und unsicher.
»Bleib bloß hinter dem Wagen. Da liegt ein Toter auf dem Fußweg. Möglicherweise sind die noch hier.«
Søndergaard erbleichte. Seine schwarze Silhouette vor dem weißen Polizeiwagen lieferte das perfekte Ziel für einen Heckenschützen. Er warf sich auf den Boden und kroch unters Auto.
Als er sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, konnte er den Bürgersteig übersehen.
Die neuen Schuhe gehörten einem dunkelgekleideten Mann, der in einer dunklen Pfütze lag. Im Neonlicht sah die Blutlache wie dickflüssiges Altöl aus.
Links vor dem Toten oder Sterbenden lag ein schwarzer Diplomatenkoffer. Offenbar war er gegen das schmiedeeiserne Gitter geschleudert worden. Oder hatte sich der Erschossene damit zu schützen versucht? Jedenfalls war die Aktentasche aufgesprungen, in der Blutlache lagen weiße Briefbögen.
Søndergaard kniff die Augen zusammen. War der Mann tot? Ihm kam es so vor, als sei die Lache in der kurzen Zeit, in der er unter dem Wagen lag, größer geworden.
Brechreiz stieg in ihm hoch. Er konnte nicht länger auf den Mann blicken, dessen Leben langsam in die Zementplatten sickerte.
Auf Knien und Ellenbogen kroch er vorwärts, bis ihm die Reifen den Blick auf den Sterbenden versperrten.
Ein scharfes, beunruhigendes Geräusch zerriß die Stille. Metall auf rauhem Asphalt. Søndergaard war psychisch und physisch in höchster Bereitschaft, mehr konnte er nicht ertragen. Sein Herz schlug einen Saltomortale und hämmerte wie eine außer Kontrolle geratene Pumpstation.
Was zum Teufel war bei dem BMW los? Hatte der Täter auch auf Petersen geschossen? Oder machte sich Petersen zum Schuß bereit?
»Was auf deiner Seite?«
Petersens Stimme ... es tat gut, sie zu hören.
»Nichts.« Søndergaard versuchte auch zu flüstern, gleichzeitig aber so deutlich zu sprechen, daß sein Kollege die Antwort verstand . Während er auf dem Asphalt lag, hatte er nur die Geräusche der Autos auf der Store Kongensgade gehört. Nie hätte er geglaubt, daß man sich mitten in einer Millionenstadt so einsam fühlen konnte.
»Ist besser, wenn ich mal gucke, ob er noch lebt.« Petersens Stimme war weit weg, drang aber gut durch. Scheinbar