Die Marmortaube. Søren Jakobsen

Die Marmortaube - Søren Jakobsen


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sich nicht einmal ein Polizeimeister erlauben, für den PET-Chef war es ein ständiger Balanceakt am Rande des Abgrunds.

      Jansen hätte den kalten Perfektionismus Møllers besser verstanden, wenn er die Qualen des Vizepolizeimeisters in all ihren Details gekannt hätte. Doch trotz lebenslanger Erfahrung hatte er seinen Plagegeist nie durchschaut.

      Obwohl die südlich gelegenen Büros des PET-Gebäudes dunkle Sonnenblenden vor den Fenstern haben, wird es unerträglich in ihnen, wenn die Wärmeabsorbation der dicken Betonelemente im Hochsommer ihr Maximum erreicht. Die Sicherheitsbestimmungen verbieten zudem offene Fenster – es könnten ja interne Papiere herausfliegen.

      Daher war es nur gerecht, wenn die Führungskräfte unter der Hitzewelle am meisten zu leiden hatten. Schließlich hatten sie die schönsten Büros belegt und die internen Sicherheitsbestimmungen zusammen erarbeitet.

      Wenn das Gebäude nicht mehr zu ertragen war, verkürzten sich die Arbeitstage von Oluf Trapp Madsen auf eine noch gerade zu vertretende Länge. Allerdings hinterließ er immer die Telefonnummer seiner diversen Sommeradressen im Büro.

      Zurück blieb in aller Regel nur John Møller, von dem böse Zungen behaupteten, daß er sogar im Nadelstreifenanzug Tennis spielte. An diesem heißen Sommerabend sahen Bojskov und Jansen den stellvertretenden Chef zum ersten Mal in Hemdsärmeln und roten Hosenträgern.

      Auf seinem kleinen Bürotisch stand eine Thermoskanne. Gedeckt war für vier Personen.

      »Bitte«, forderte Møller auf, »ich glaube, eine Tasse Kaffee können wir gut gebrauchen, bevor wir den Fall noch einmal durchgehen. Trapp muß jeden Moment kommen.«

      Jansen wußte, daß der Chef so spät kam, weil er aus einem Wochenendhaus bei Hornbaek hergerufen werden mußte. Eine neue Freundin, dachte der Kriminalinspektor. In dienstlichem Interesse müßte man eigentlich Buch führen.

      Anders Bojskov war unsicher. Er war zum ersten Mal allein mit der Führung der PET.

      »Bevor wir uns den anstehenden Problemen widmen, möchte ich Bojskov danken.« Møller lächelte dem schlanken Kriminalassistenten, der in Cordhosen und Gesundheitslatschen steckte, freundlich zu.

      »Ohne daß es jemand bisher direkt ausgesprochen hat, habe ich doch das Gefühl, daß sich unser Verhältnis zur Mordkommission durch dich erheblich verbessert hat. Valdemar Henriksen ist von allein gekommen, um uns von Anfang an in diesen Fall einzuweihen. Wir alle kennen Henriksen. Von ihm akzeptiert zu werden, ist bestimmt genauso schwierig wie der Gang des Kamels durchs Nadelöhr.«

      Henriksen hat uns doch bloß informiert, um sich für den Fall abzusichern, daß er mit einem ungeklärten Mord sitzen bleibt, dachte Jansen. Wenn etwas schiefgeht, kann er es jetzt dem Geheimdienst in die Schuhe schieben.

      Die Tür wurde aufgerissen. In den leichten Sommerhosen und dem karierten Hemd sah Trapp Madsen wirklich aus wie ein Chef, dem ein sorgfältig vorbereitetes Wochenende ziemlich plötzlich kaputtgemacht worden ist. Sein Auftritt ließ allerdings keinen Zweifel daran, daß er gekommen war, um die Führung zu übernehmen.

      »Ich brauch ’nen Kaffee. Gibts ’ne Tasse für mich?«

      Jansen guckte sich Trapp genau an. Er hatte getrunken. Trotzdem war er bestimmt über die Autobahn gebraust wie der Henker.

      »Ja bitte«, Møller schien ganz ruhig. Ärgerte er sich, daß Trapp so schnell erschienen war?

      Trapp goß sich ein. »Wie weit sind wir, John?«

      »Ich bin die Akte des Ingenieurs Ole Kramer durchgegangen. Wir haben ihm einmal eine Sicherheitsbescheinigung ausgestellt. Nach der Lage der Dinge muß ich sagen, die Akten stützen Henriksens Theorie, daß wir es mit einem Terrorakt zu tun haben.«

      »Wieso?« fragte Trapp Madsen, während er sich den Bart kratzte.

      »Ole Kramer war einer der führenden Experten für EDV-Anlagen, unter anderem für militärische Kodes. Vielleicht der einzige dänische Industrielle, für den sich die internationale Rüstungsindustrie interessierte. Die Kleinigkeiten, die seinerzeit für den Starfighter geliefert wurden, hatten doch bloß symbolische Bedeutung.«

      »Deshalb braucht man doch noch lange nicht von einem Terrorakt zu reden. Von Kramers Arbeit für die NATO wußten doch offensichtlich nur wenige Fachleute. Ich glaube, Valdemar Henriksen hat eine Nummer mit uns vor.« Trapp stand auf und begann, auf und ab zu gehen.

      »Ole Kramer wurde nicht erschossen, er wurde geschlachtet. Henriksen sagt, er hätte, seit die Armenier versuchten, den ersten Sekretär der türkischen Botschaft zu ermorden, so etwas nicht mehr gesehen.«

      »Es kann aber auch eine verlassene Liebhaberin gewesen sein. Oder seine Frau hat genug von ihm gehabt. Wenn sie die Aktien an die Amerikaner oder die Japaner verkauft, ist sie doch sicher Multimillionärin. Vielleicht war es auch sein Kompagnon, der sich die Aktienmehrheit in der Firma sichern wollte. Es gibt da ziemlich viele Möglichkeiten von der bekannten, gutbürgerlichen Sorte. Die sollten wir erst einmal untersuchen, bevor wir uns mit Theorien über terroristische Vereinigungen befassen. Warum gerade jetzt und noch dazu in Dänemark? Die Rote Armee Fraktion sitzt hinter Schloß und Riegel, jedenfalls die Mitglieder, die noch am Leben sind ... und die Infrastruktur der Roten Brigaden in Italien ist geknackt. Wer hätte das Organisationstalent und die Waffen, um sowas mitten in Kopenhagen durchzuziehen?«

      Jansen mußte sich beherrschen, um Møller nicht merken zu lassen, wie er die Situation genoß. Der Inspektor konnte sich der versteckten Kritik, die in Trapps Fragen lag, nur anschließen. Terror in Dänemark schien Jansen ausgeschlossen.

      Nur Anders Bojskov fühlte sich unwohl in seiner Rolle als Schaf im Wolfsrudel.

      »Möglicherweise ist das alles richtig«, räumte John Møller ein, »nur ändert es nichts an der Tatsache, daß die Mordkommission um unsere Unterstützung gebeten hat. Ich befürchte, wir schneiden uns ins eigene Fleisch, wenn wir nein sagen. Außerdem, so bescheiden brauchen wir wohl in der Beurteilung unserer eigenen taktischen Möglichkeiten nicht zu sein, daß wir schon vor Valdemar Henriksen Angst haben.«

      Trapp unterbrach seine Wanderung. »Was schlägst du konkret vor, John?«

      »Wir schicken zwei Mann in die Mordkommission, meinetwegen Bojskov und Winther. Wenn der Fall wirklich keine nachrichtendienstlichen Aspekte hat, ziehen wir uns ganz ruhig wieder zurück.«

      »Was hälst du davon, Jansen?«

      »Sehr vernünftiger Vorschlag.«

      »Und du, Anders.«

      Trapps Frage überrumpelte den Kriminalassistenten, er war nicht gewohnt, in Chefkonferenzen seine Meinung zu äußern.

      »Es ist ja noch nicht lange her, daß ich bei der Mordkommission war, also ...«

      Trapp fing seinen Blick auf und sagte überraschend heftig:

      »Das will ich nicht hören. Ich weiß, du tust, was man dir sagt – und manchmal auch etwas mehr. Die Frage ist, ob du Valdemar Henriksen so gut kennst, daß du ihn erwischst, bevor er uns den schwarzen Peter zuschiebt.«

      »Ich werde mein Bestes tun. Ich habe ein ausgezeichnetes Verhältnis zu Bruno Frederiksen.«

      »Du willst also nicht eindeutig ja oder nein sagen?« bohrte Trapp Madsen weiter.

      Anders Bojskov wußte nicht, was er sagen sollte. Møller kam ihm zu Hilfe. »Ich meine, du solltest Henriksen anrufen. Wenn wir noch mehr Zeit mit taktischen Überlegungen verschwenden, löst sich die Frage von allein, und weder Bojskov noch Winther werden an den Ermittlungen beteiligt.«

      Trapp sah auf seine Digitaluhr. Beinahe Mitternacht. Møller hatte Recht, die Zeit drängte.

      Am Stadsgraven rauschte das Schilf im warmen Abendwind.

      Ein amerikanischer Geschäftsmann stand am offenen Fenster im 12. Stock des Hotels Scandinavia und schaute auf das Wasser und den merkwürdigen Stadtteil gegenüber, wo der Freistaat Christiania liegen sollte. Ein Freistaat mitten in der Hauptstadt eines wohlgeordneten Landes, ein Freistaat auf ehemals


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