Die Marmortaube. Søren Jakobsen

Die Marmortaube - Søren Jakobsen


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Position. Er erkannte Petersens zu kurze Uniformhose und seine Schuhe am Rand der Blutlache. Der Kollege wollte sich hinknien, erstarrte aber mitten in der Bewegung. Petersen schwang seine Pistole, als hätte er plötzlich wieder Angst bekommen, von hinten angegriffen zu werden. »Was ist?« Søndergaard war überrascht über seine belegte, ängstliche Stimme. Ängstlich und belämmert. Gab es etwas Schlimmeres für einen Polizisten im Dienst?

      »Sieh dir das an. Sie haben ihm fast den ganzen Hinterkopf weggeblasen.«

      Søndergaard sah, wie Petersen um den Toten herumging. Er versuchte sich zusammenzureißen, war aber nicht imstande, sich die Mischung aus Blut und Gehirnmasse anzusehen, die auf den Fußweg floß. »Ich ruf den Krankenwagen und das Revier«, sagte er. Sie brauchten Verstärkung.

      Wieder auf dem Fahrersitz registrierte Søndergaard, daß der Wagen die ganze Zeit illuminiert wie ein Ausflugsdampfer auf dem Platz gestanden hatte, während er und sein Kollege sich bemühten, einem Hinterhalt zu entgehen. Die geöffnete Fahrertür hatte den Kontakt der Innenbeleuchtung ausgelöst. Vor Aufregung hatte er es nicht bemerkt. Schöner Mist. Ein Verrückter hätte die freie Wahl gehabt zwischen zwei schwarzgekleideten Polizisten: vor einem Hintergrund von Weiß oder Silbermetallic.

      Petersen war hoffentlich zu beschäftigt, um sein idiotisches Verhalten bemerkt zu haben. Søndergaard wurde rot. Hastig bediente er die Sprechfunkanlage. Sekunden später hörten die beiden Männer auf dem Kirchenvorplatz ihre Kollegen in der Fredericiagade ausrücken. Zwischen der Kirche und der Hinterausfahrt des 2. Reviers lagen nur zwei Häuserblöcke.

      Der Krankenwagen heulte durch die Innenstadt, obwohl Søndergaard gesagt hatte, es sei nichts mehr zu machen. Man brauchte kein Arzt zu sein, um hier den Totenschein auszustellen. Er hatte noch gemurmelt, daß der Mann mit einem abgesägten Jagdgewehr erschossen worden sei, aber daran konnte er sich später nicht mehr erinnern. Auf dem Tonband, das in der Hauptwache bei allen Meldungen mitläuft, wurde es allerdings registriert.

      Als der Krankenwagen Nr. 6 vom Reichshospital, genauer gesagt vom Rechtsmedizinischen Institut hinter dem Krankenhaus abfuhr, bog eine schwere Honda auf den Amager Strandvej. In den Kleingartenkolonien und Segelklubs herrschte reges Treiben. Es war die Zeit für einen Abendkaffee oder ein Bier. Vor den alten Bunkern auf dem Weg zur Badeanstalt fochten ein paar Jungen einen kleinen Phantasiekrieg aus, sie schossen imaginäre Bomber auf ihrem Flug zur Benzininsel ab. Als das Motorrad vom Strandvej auf den Øresundsvej fuhr, bedienten sie gerade ihre Luftabwehrraketen: Äste, die beim letzten Mitsommernachtsfeuer nicht mit verbrannt waren.

      Das sanfte Brummen der vier gleichmäßig arbeitenden Zylinder ließ sie einen Moment aufhorchen. Da der Honda-Fahrer aber zu keinem lokalen Motorradklub gehörte, interessierte er sie nicht weiter.

      Der Polizei hätte es auch wenig geholfen, wenn sie sich das Nummernschild der Maschine gemerkt hätten. Es war gestohlen. An den Schienen der Güterbahn bog die Honda auf einen schmalen Schotterweg und hielt kurz darauf vor einem primitiven Werkzeugschuppen. Mit einer beinahe anmutigen Bewegung stieg der Fahrer ab und sah sich um. Trotz der zunehmenden Dunkelheit blieb das getönte Plexiglasvisier des Sturzhelms geschlossen. Unpraktisch, denn das Visier beschlug, als der Fahrer die Maschine mit ziemlicher Mühe durch das Tor des Schuppens schob. Aufmerksamen Beobachtern wäre möglicherweise aufgefallen, daß der Fahrer verhältnismäßig kleine Stiefel trug. Überhaupt wirkte die Gestalt sehr feminin.

      Als die Leuchtstoffröhren unter dem mit Spinnweben verhangenen Dach zu flimmern aufgehört hatten, öffnete der Fahrer die linke Seitentasche, schlug ein paar Lappen auseinander und hielt eine mattschwarze Pistole in der Hand. Eine 9mm Heckler & Koch, ein westdeutsches Markenfabrikat, Dienstpistole in einigen Bundesländern.

      Den Motorradfahrer reizte es, die Handschuhe auszuziehen und noch einmal den Zeigefinger um den Abzug zu krümmen. Eine unglaubliche Macht lag in dieser kleinen Bewegung.

      Es war jedoch nicht der richtige Augenblick, sich solchen Überlegungen hinzugeben. Die Pistole verschwand wieder in der schützenden Dunkelheit der Seitentasche, der Sturzhelm wurde abgenommen.

      Auch das Gesicht lieferte keine endgültige Antwort, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Volle Lippen und ein sinnlicher Amorbogen, nur saß darüber ein buschiger Schnauzbart. Kinn und Backen zeigten allerdings nicht die typischen schwarzen Schatten, die auf einen kräftigen Bartwuchs hinweisen. Die Stirn war hoch wie bei vielen Frauen, darüber ein kurzer Herrenschnitt, eine zivilisierte Punkfrisur. Der deutliche Unterschied zwischen Haupthaar und Augenbrauen wurde durch die Färbung betont.

      Der Motorradfahrer arbeitete mit der Geschicklichkeit eines routinierten Mechanikers oder Fabrikarbeiters. Die neue Heckler & Koch wurde in einen Schraubstock gespannt, und blitzschnell war der Lauf zu einem ungewöhnlich großen Kaliber ausgebohrt. Die Stahlspäne würden im Nachhinein nicht mehr zu identifizieren sein. Die Möglichkeit dazu sollte das Polizeilabor sowieso niemals bekommen, denn einen Augenblick später verdampften die Späne in einem Säurebad.

      Inge Kramer zündete sich eine Zigarette an und ging zum Fenster. Den Tabak schmeckte sie kaum noch, es war die dritte Zigarette innerhalb weniger Minuten. Sie kannte Oles Fahrgewohnheiten und das Motorengeräusch seines BMW, eigentlich gab es keinen Grund, am Fenster zu stehen und vor Ungeduld nervös zu werden. Dorte und Manfred nippten an den Campari-Sodas und wechselten einen vielsagenden Blick. Sie waren zum Abendessen eingeladen, danach wollte man Bridge spielen. Der Ablauf dieser Freitagabende war so eingespielt, daß sie Inges Irritation über Oles Verspätung nicht verstanden. Einem vielbeschäftigten Geschäftsmann konnte das doch mal passieren. Oder gab es tiefere Gründe für Inges Unruhe? Ab und an war ein feindlicher Unterton in den Bemerkungen zu hören gewesen, die die beiden miteinander wechselten.

      »Ich begreife nicht, wo er bleibt.« Inge Kramer drückte ihre Zigarette aus.

      Manfred schwenkte die Eiswürfel in seinem hohen Campariglas. Er mochte den Aperitif nicht austrinken, zum Essen und beim Kartenspiel würde es noch genug Alkohol geben.

      »Vielleicht ist er in eine Verkehrskontrolle geraten«, versuchte er ein Gespräch in Gang zu bringen.

      »Vielleicht, trotzdem ist es mir unverständlich, wo er bleibt. Er wechselt jedes Jahr seinen Wagen, da können sie kaum was finden.«

      »Wirklich? Seine Autos sehen sich alle so ähnlich, daß ich es nie bemerkt habe.« Manfred war überrascht. Natürlich hatte er Oles geschäftlichen Erfolg mitbekommen, das ließ sich gar nicht vermeiden. Aber daß Oles Erfolg so groß war, daß er sich jedes Jahr einen der teuersten BMW’s leisten konnte, beeindruckte ihn doch. Oder war es nur ein Steuertrick? Manfred war sich nicht sicher.

      »Ich rufe jetzt im Büro an. Wenn die auch nicht wissen, wo er ist, fangen wir ohne ihn an.«

      Inge ging in die Küche, ein kleines Tastentelefon hing dort am Türpfosten. Es gab keinen Grund, Dorte und Manfred das Gespräch mithören zu lassen, möglicherweise fielen barsche Bemerkungen. Aber weder im Stadtbüro noch im Fabrikzentrum in Lundtofte meldete sich noch jemand.

      Inge Kramer stellte eine Flasche Rosechatel in den Weinkühler und zerkleinerte Eiswürfel. Sie ärgerte sich noch immer, wurde aber spürbar nervöser. Normalerweise rief Ole an, wenn er sich verspätete, egal, ob er noch in einer wichtigen Konferenz saß oder bereits unterwegs war.

      Es mußte etwas passiert sein.

      Die aufgeschweißte Öltonne gab mit einem Klagelaut nach, als die Flammen der Motorradreifen das dünne Metall erhitzten. Mit der steigenden Temperatur des brodelnden Gummis wechselte die rostrote Tonne ihre Farbe in dunkelbraune und brandigblaue Töne.

      Der Hondafahrer trat von der Abfalltonne in den Windschatten des alten, rotbemalten Holzschuppens. Wachsame, grünbraune Augen folgten der breiten Fahne von schwarzem, fetten Rauch, der sich über das Nachbargrundstück, eine verlassene Zementgießerei, wälzte. Doch weder die Geräusche der Tonne noch die Rauchbelästigung riefen neugierige Jugendliche, wütende Kleingartenbesitzer oder Umweltschützer der Gegend auf den Plan.

      Der Motorradfahrer steckte sich eine Zigarette an. Die Spuren waren verwischt, jetzt kam die Reaktion auf die Anspannung.

      Es tat gut, den Rauch


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