Arabischer Frühling ohne Sommer?. Martin Pabst

Arabischer Frühling ohne Sommer? - Martin Pabst


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Speech, in: APNEWS, 19.11. (Übersetzung Vf.), URL: https://apnews.com/543b41cf9372cce5be3fee964d0946d2 [11.2.2020].

      

      1 Frühling ohne Sommer? Zerfall oder Neuordnung?

      Die zum Jahresbeginn 2011 ausbrechenden Massenproteste in der arabischen Welt und der Sturz langjähriger Despoten wie Zine El Abidine Ben Ali (Tunesien) und Hosni Mubarak (Ägypten) lösten die optimistische Erwartung aus, dass sich eine der letzten autoritär geführten Weltregionen endlich demokratisieren würde.1

      Viele Beobachter im Westen räumten nun das Ende eines angeblichen »Arabischen Exzeptionalismus«2 ein. Mit diesem Begriff war – nicht uneigennützig – ein autoritärer Sonderweg der Araber postuliert worden. Er bezog sich auf die Tatsache, dass nach dem Ende des Kalten Kriegs nur in dieser Weltregion in großem Umfang autoritäre und repressive Regime an der Macht geblieben waren. Die jahrhundertelange Beherrschung eines Großteils der Staaten durch das feudale Osmanische Reich, kulturelle, religiöse und tribale Prägungen sowie die Folgen einer ausschließlichen Erdölökonomie wurden herangezogen, um das Ausbleiben von Demokratie und Pluralismus zu erklären.

      Die autoritären Herrschaftsformen waren revolutionär legitimierte Ein-Personen- und Clanherrschaften wie in Libyen und Syrien, Einparteiensysteme wie in Tunesien, autoritär gelenkte »Halbdemokratien« wie in Ägypten, konstitutionelle Monarchien mit starken Machtbefugnissen des Königs wie in Jordanien und Marokko sowie absolute Monarchien in den arabischen Golfstaaten. Ausnahmen bildeten lediglich der Libanon mit seiner 1943 etablierten Proporz- und Konsensdemokratie und die Republik Irak mit ihrer nach 2003 unter Besatzungsherrschaft installierten föderalen Demokratie. Doch auch in diesen Staaten standen egoistisch vorgetragene Gruppeninteressen und eine hohe gesellschaftliche Gewaltbereitschaft der freien demokratischen Willensbildung entgegen.

      Autoritäre Regierungen sind für China und Russland bequeme Partner. Aber auch westliche Regierungen haben gut mit ihnen zusammengearbeitet – bei Handelsabkommen und Investitionen, bei Migrationsabwehr und Terrorismusbekämpfung. So unterzeichnete Italiens Regierungschef Silvio Berlusconi im Jahr 2008 mit Libyens despotischem Machthaber Muammar al-Gaddafi einen »Freundschaftspakt«, der Entschädigungszahlungen für die Kolonialzeit zugestand. Im Gegenzug räumte Libyen italienischen Firmen bevorzugt Zugang zum Energiesektor ein. Auch verpflichtete sich das nordafrikanische Land, das nicht einmal die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet hatte, die irreguläre Migration nach Italien zu unterbinden. Auch die Europäische Union (EU) strebte 2011 ein ähnliches Abkommen mit al-Gaddafi an.3

      Manche westlichen Politiker und Wissenschaftler hatten sich sogar dazu verstiegen, den angeblichen »autoritären Sonderweg« mit einem angeborenen Bedürfnis »des Arabers« nach Unterordnung unter einen starken Führer erklären zu müssen. Dabei blendeten sie die fatalen Begleitumstände wie Willkür, Ungerechtigkeit, Repression und Folter aus.

      Nun wurden sie eines Besseren belehrt. Gerade junge Menschen waren es leid, fremdbestimmt zu werden, die alltägliche Propaganda zu ertragen und die dauernden politischen und ökonomischen Demütigungen hinzunehmen. Mutig gingen sie auf die Straße und riskierten in der Konfrontation mit brutalen Sicherheitskräften Leben, Gesundheit und Karriere. »Würde« (karama) wurde zum zentralen Schlagwort. Nach und nach zogen sie auch die Angehörigen der angstbehafteten älteren Generation nach.

      1.1 Frühling, Winter, Umbruch, Revolution, Erwachen?

      Die begriffliche Kennzeichnung der Protestbewegung wurde in der Folgezeit kontrovers diskutiert. Optimistische Beobachter wollten in Anlehnung an den »Völkerfrühling« von 1848 und den »Prager Frühling« von 1968 einen »Arabischen Frühling« erkennen. Sie sahen die Großregion wie zwei Jahrzehnte zuvor Osteuropa auf einem unumkehrbaren Weg zu Demokratie und Marktwirtschaft (und übersahen bei dieser Wortwahl, dass auch die Frühlinge von 1848 und 1968 gescheitert waren). Für einen solchen optimistischen Ansatz steht z. B. der frühere deutsche Außenminister Guido Westerwelle, der am 9. Februar 2011 im Deutschen Bundestag schwärmte:

      »Entgegen


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