Arabischer Frühling ohne Sommer?. Martin Pabst

Arabischer Frühling ohne Sommer? - Martin Pabst


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die den Volkswillen für sich vereinnahmten, aber nicht umsetzten. Militärs,

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      Abb. 1: Gegenspieler: Der progressive ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser (links) und der konservative saudische König Faisal (Mitte), rechts Palästinenserführer Jassir Arafat, September 1970.

      hohe Polizei- und Geheimdienstoffiziere, Beamte, vom System begünstigte Händler und Unternehmer sowie kooptierte Intellektuelle, Geistliche und Stammesführer bildeten die neuen Eliten. Außerdem geriet die arabische Welt im Kalten Krieg in neue Abhängigkeiten: Das progressiv-linksnationalistische arabische Lager wurde von der Sowjetunion vereinnahmt, das konservativ-traditionalistische Lager von den USA.

      Repression und Korruption, sozioökonomische Ungleichheit sowie Armut und Arbeitslosigkeit nahmen insbesondere in den rohstoffarmen arabischen Staaten seit den 1970er-Jahren stetig zu. Auch vergrößerte sich der Abstand zu den westlichen Industriestaaten, wie die seit 2002 veröffentlichten Arab Human Development Reports des Weltentwicklungsprogramms (United Nations Development Programme/UNDP) aufzeigen.

      1.3 Das Umbruchjahr 1979

      Ein Schlüsseljahr für alle weiteren Entwicklungen war 1979, nach islamischer Zeitrechnung das symbolhafte Jahr 1400.17 Am islamischen Neujahrstag stürmten wahabitische Extremisten die Große Moschee in Mekka. Der Wahabismus ist eine vor allem in Saudi-Arabien praktizierte, fundamentalistisch-puristische Form des sunnitischen Islam, die der apokalyptische Führer der Moscheebesetzer, Dschuhaiman al-Utaibi, noch radikalisierte (siehe S. 22 f.). Angesichts des angeblich bevorstehenden Jüngsten Gerichts rief er zum Sturz der »korrupten« Dynastie al-Saud und der Errichtung eines endzeitlichen Gottesstaates auf. Erst nach zweiwöchigen Kämpfen und 1 000 Toten konnten die Extremisten in der heiligsten Moschee des Islam niedergekämpft werden. Doch lebten ihre Ideen bei von Saudi-Arabien unterstützten arabischen Freiwilligen im bald ausbrechenden Afghanistan-Krieg weiter und mündeten schließlich in den Dschihadismus von al-Kaida und vom Islamischen Staat (IS).

      Im selben Jahr 1979 stürzte Ajatollah Ruhollah Chomeini im Iran die Monarchie und etablierte eine von Geistlichen kontrollierte »Islamische Republik Iran« als Gegenmodell sowohl zum westlichen Kapitalismus als auch zum östlichen Kommunismus. Chomeini sah die vom Versprechen sozialer Gerechtigkeit begleitete Islamische Revolution im Iran nicht als nationale bzw. innerschiitische Entwicklung, sondern auch als emanzipatorisches Modell für die gesamte islamische Welt, ja sogar für den gesamten globalen Süden. Entsprechend intensivierte die Islamische Republik Iran ihre revolutionären Anstrengungen zum Aufbau verwandter Bewegungen und der Gewinnung von Partnern im sunnitischen wie im schiitischen Lager.

      Auch eine dritte islamistische Strömung hatte nach 1979 Aufwind: die sunnitische Muslimbruderschaft. Vom ägyptischen Lehrer Hasan al-Banna 1928 als Reaktion auf die koloniale Fremdherrschaft, die jüdische Einwanderung in Palästina und die Abschaffung des Kalifats gegründet, bekämpfte die Geheimorganisation den europäischen Imperialismus. Über Mission (dawaa) und Erziehung (tarbiah) versuchte sie, alle Institutionen zu durchdringen.

      Die Muslimbrüder versprachen Stärke durch die Errichtung eines übernationalen Gemeinwesens auf islamischer Grundlage. Um dieses Ziel zu erreichen, etablierten sie ein hierarchisch strukturiertes, logenartiges und nach außen abgeschirmtes System. Geeignete Neulinge werden individuell angeworben und in »Familien« mit den politischen Ideen der Bewegung vertraut gemacht und sozialisiert. Bei Bewährung können sie in höhere Grade aufstiegen. Die Erziehung zum höchsten Grad des aktiven »Bruders« (akhmal) dauert fünf bis acht Jahre. Über den »Familien« stehen Zweige, Gebiete, Gouvernorate, das Allgemeine Schura-Komitee und an der Spitze das Führungsbüro (maktab al-irschad) sowie der Oberste Führer (murschid al-amm), denen mit einem Eid absoluter Gehorsam zu leisten ist. Zum Schutz der Organisation kennen die jeweiligen Zellen nur ihre jeweils vorgesetzten Führer. Auf allen Ebenen werden geeigneten Muslimbrüdern bestimmte Fachressorts übertragen. Sie sind auch aufgefordert, sich für Führungspositionen in Gewerkschaften, Berufsverbänden, an Schulen und Universitäten zu bewerben.18

      Über das Internationales Büro in Kairo wurden ab 1936 verwandte Bruderschaften in anderen arabischen Staaten gegründet. Im Jahr 1954 wurde die Muslimbruderschaft in Ägypten verboten, hielt jedoch Strukturen im Untergrund aufrecht. Weitere arabische Staaten, wie z. B. Libyen und Syrien, erließen ebenfalls Verbote, doch in einigen Ländern, wie z. B. Jordanien und Kuwait, konnten die Muslimbrüder weiterhin legal auftreten.

      Die desaströse Niederlage säkularer arabischer Staaten 1967 gegen Israel, ihre Zerstrittenheit und ihre ökonomische Misere führten zum schleichenden Niedergang des arabischen Nationalismus und Sozialismus. Viele Araber wandten sich enttäuscht dem politischen Islam (Islamismus) zu, der ihnen politische Macht, ökonomischen Aufschwung, soziale Gerechtigkeit und überstaatliche Einheit auf islamischer Grundlage versprach. So nahmen die in Ägypten seit Mitte der 1970er-Jahre wieder tolerierten Muslimbrüder mit wachsendem Erfolg als »Unabhängige« an den Parlamentswahlen teil.

      Die Muslimbrüder sind davon überzeugt, dass ihr Staats- und Gesellschaftsmodell gottgewollt und allen anderen Modellen überlegen ist, sodass es zu einem bestimmten Zeitpunkt gewissermaßen mit geschichtlich-religiöser Notwendigkeit umgesetzt werden wird. Doch kamen immer wieder Stimmen auf, die die geschichtliche Entwicklung durch Gewalteinsatz zu beschleunigen versuchten. Die ägyptische Muslimbruderschaft hatte für den antikolonialen Kampf einen bewaffneten Flügel gegründet. Ihr Verhältnis zum Gewalteinsatz war ambivalent. Der unter Präsident Abdel Nasser hingerichtete Vordenker der Muslimbrüder, Sajid Kutb (1906–1966), hatte die muslimischen Gesellschaften und Staaten als vom Islam abgefallen erklärt und zum dschihad einer kleinen Avantgarde gegen die in dschahilija (Unwissenheit) verfangenen arabischen Herrscher wie auch zum Kampf gegen den dekadenten Westen aufgerufen. Anfang der 1970er-Jahre lösten die ägyptischen Muslimbrüder den bewaffneten »Sonderapparat« offiziell auf und entsagten der Gewalt. Doch blieben Schriften Kutbs in ihren »Familien« Pflichtlektüre.19

      Kutbs Denken beeinflusste den radikalen Flügel der syrischen Muslimbrüder, die von 1976 bis 1982 einen schließlich brutal niedergeschlagenen Aufstand gegen die Regierung von Präsident Hafes al-Assad wagten. Der palästinensisch-jordanische Muslimbruder und Rechtsgelehrte Abdallah Assam zog 1984 nach Peschawar (Pakistan), um dort zusammen mit seinem Schüler Osama bin Laden ein »Büro für Mudschahedin-Dienste« in Afghanistan aufzubauen. Assam forderte von jedem Gläubigen eine »individuelle Verpflichtung« zum dschihad ein. 1988 rief er zur Bildung einer al-kaida as-sulba (soliden Basis) erprobter und ideologisch gefestigter Kämpfer auf. Osama bin Laden, der in den 1970er-Jahren bis zu seinem Ausschluß wegen Ungehorsams Muslimbruder gewesen war, setzte dies nach der ein Jahr später erfolgten Ermordung Assams um. Seine Anhänger sahen sich nach dem Rückzug der Roten Armee (1989) als gottgewollte Sieger und Vollender einer islamischen Weltrevolution. Auch der Theoretiker des »Dschihads der Dritten Generation«, Mustafa Netmariam Nasar alias Abu Mussab al-Suri, begann seine politische Karriere in Syrien bei den Muslimbrüdern. Prägend wurde dann allerdings salafistisches Gedankengut.20

      Ab den 1970er-Jahren traten zunehmend nichtstaatliche Akteure in Erscheinung. So wurde 1973 letztmals ein konventioneller, zwischenstaatlicher Nahostkrieg zwischen Israel und arabischen Staaten geführt, danach kam es dort immer wieder zu bewaffneten Konflikten Israels mit zivilen Aktivisten, Befreiungsbewegungen oder Terrorgruppen. Kampfmittel wie Sabotage, Geiselnahmen und terroristische Anschläge wurden nun immer häufiger eingesetzt – zunächst von säkular-nationalistischen und säkular-sozialistischen Bewegungen, später auch von militanten islamistischen und dschihadistischen Gruppierungen.

      Neu war auch, dass nun Ressentiments gegen ethnische bzw. religiöse Gruppen gezielt angefacht wurden, um Anhänger zu mobilisieren und identitätsstiftende Feindbilder zu schaffen. Erstmals war dies im libanesischen Bürgerkrieg (1975–1990) zu beobachten. Der Libanon war auch ein Vorreiter des Zusammenbruchs von Staatlichkeit, wie heute im Irak, Jemen, Libyen oder Syrien zu beobachten.

      Das saudische Königshaus sah sich durch die Ereignisse von 1979 in dreifacher Weise bedroht – von saudisch-wahabitischen Extremisten,


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