Arabischer Frühling ohne Sommer?. Martin Pabst

Arabischer Frühling ohne Sommer? - Martin Pabst


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von Werten und eine Globalisierung von Freiheitswerten stattfinden.«4

      Doch wurde der Beitrag der jugendlichen, säkularen Netzaktivisten stark überschätzt, und andere Akteure wurden ausgeblendet. Man übersah, dass Autoritarismus und Despotie seit vielen Jahrhunderten in der Großregion verwurzelt sind. Das Bemühen der Regierungen um flächendeckenden, effizienten Schulunterricht ist häufig nur ein Lippenbekenntnis. Viele autoritäre Herrscher sind nicht ernsthaft an gut gebildeten und kritisch denkenden Staatsbürgern interessiert. Gemäß der Weltbank sind heute 29 % der Ägypter, 26 % der Marokkaner und 19 % der Algerier über 15 Jahren Analphabeten. Die letzten belastbaren Zahlen für den Jemen aus dem Jahr 2004 gingen von 46 % Analphabeten aus.5 Damit kann ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung bei Wahlen über gelenkte Massenmedien bzw. über Moscheen indoktriniert und manipuliert werden. Wie die syrische Schriftstellerin Dima Wannous eindrucksvoll schildert, sind Schulen Institutionen zur Einübung von Macht, Unterordnung, Angst, gegenseitigem Misstrauen, politisierten Gruppenidentitäten und damit verbundenen Ressentiments.6

      Was der Geschäftsführer des deutschen Nah- und Mittelost-Vereins Reinhard Hüber im Jahr 1954 schrieb, gilt in Teilen auch heute:

      »Billige Schlagworte von der ›Demokratie‹ etwa helfen Nahost nicht weiter, weil dafür die echten Voraussetzungen fehlen. Im Orient hat nur der die Macht, welcher die Machtinstrumente in der Hand hält: das angestammte Herrscherhaus, der Usurpator, die Offiziersgruppe, der Politiker, der die Apparatur von Militär und Polizei beherrscht. Nirgends hat es ja dort etwas wie ein bürgerliches Jahrhundert gegeben. Der ›Staatsbürger‹ muß erst entwickelt werden, der ›Untertan‹ ist das Normale. Der Staat wird meist gefürchtet, da die Despotie nur zu oft der Tradition entspricht.«7

      Auch nahm man zu Unrecht an, dass der militante Islamismus und Dschihadismus besiegt seien. Denn just zu jener Zeit, am 2. Mai 2011, töteten US-Spezialkräfte den al-Kaida-Chef Osama bin Laden in seinem pakistanischen Unterschlupf. Es war aber nur ein Pyrrhussieg. Der von al-Kaida angeführte »Dschihadismus der zweiten Generation« war bereits zuvor gescheitert. Im Entstehen war der vom »Islamischen Staat« (IS) verkörperte, weit brutalere »Dschihadismus der Dritten Generation« (image Kap. 1.5).8

      Manchen Beobachtern war die Frühlingsmetapher daher zu optimistisch – mit einem gesunden Maß Realismus setzten sie auf ergebnisoffenere Kennzeichnungen: auf die von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung propagierten Begriffe »Arabellion« und »Arabische Revolte« oder auf die Zustandsbeschreibung »Arabischer Umbruch«. Denn die Gesellschaften hatten keine geschichtlichen Erfahrungen mit der Staatsform der Demokratie, unter den Demonstranten waren auch Nationalisten, Kommunisten und Radikalislamisten, die mit pluralistischer Demokratie wenig verbanden, und in der Region gab es gewichtige Akteure, die eine Demokratisierung zu verhindern suchten. Andere Stimmen erklärten den »Arabischen Frühling« schon 2012 für gescheitert und ersetzten ihn durch einen »Arabischen Winter«9 oder gar durch einen »Islamistischen Winter«.10

      Im arabischen Raum wird der Begriff »Arabischer Frühling« überwiegend als westliche und ideologisch aufgeladene Wortschöpfung abgelehnt.11 US-amerikanische Journalisten hatten diesen Begriff bereits 2005 unter dem Eindruck der antisyrischen Proteste im Libanon nach der Ermordung von Rafik Hariri geprägt, um Präsident George W. Bushs Invasion im Irak und seine »Freedom Agenda« für Nahmittelost zu rechtfertigen.12 Im arabischen Raum werden die Termini »Arabische Revolution« (al-thaurat al-arabia) oder »Zweites Arabisches Erwachen« bevorzugt,13 bezugnehmend auf das Buch Arab Awakening (1938) des libanesischen Historikers George Habib Antonius.14 Mit dieser Bezeichnung hatte er den arabischen Volkswiderstand der 1920er- und 1930er-Jahre gegen die Kolonialherrschaft charakterisiert. In diese Tradition wollen demokratische Aktivisten ihre arabische Protestbewegung stellen. Der Begriff soll individuellen Freiheitsdrang mit dem Streben nach menschlicher und nationaler Würde verbinden.

      1.2 Der Niedergang der arabischen Welt

      Der Niedergang der arabischen Welt begann mit der mongolischen Invasion im 13. Jahrhundert und setzte sich mit den Eroberungen der türkischen Osmanen im 16. Jahrhundert fort. Zwar wurden die überwiegend muslimischen Araber von einem muslimischen Sultan regiert, doch saß er im fernen Konstantinopel, seine Beamten und Soldaten verhielten sich vor Ort oft autokratisch, nahmen wenig Rücksicht auf die arabische Kultur und forderten von den Bewohnern hohe Abgaben.15

      Ein erster, tiefgreifender Schock war der Einfall des französischen Generals Napoléon Bonaparte in Ägypten und Palästina in den Jahren 1798 bis 1801, auch wenn das kühne Unternehmen schon bald scheiterte. Er führte den Arabern das immer größer werdende Machtgefälle gegenüber dem Abendland vor Augen. Versuche der osmanischen Vizekönige in Ägypten, ihr Staatswesen aus eigener Kraft zu reformieren, wurden von den europäischen Mächten geschickt vereitelt, indem sie Ägypten in die Staatsverschuldung trieben.

      Mit der französischen Eroberung Algeriens ab dem Jahr 1830 setzten sich die Europäer in der arabischen Welt als Kolonialmächte fest. Ab 1882 kontrollierte Großbritannien das Schlüsselland Ägypten, durch das die geostrategisch wichtige Suezpassage nach Britisch-Indien verlief.

      Im Ersten Weltkrieg gewann Großbritannien arabische Bundesgenossen unter Führung der Haschemiten-Dynastie in Mekka. Doch wurde ihnen nach dem Sieg der versprochene arabische Großstaat verweigert. Stattdessen wurden die arabischen Gebiete des Osmanischen Reichs den europäischen Siegermächten als »Völkerbundsmandate« übertragen. Sie zerschnitten sie durch neu gezogene Grenzen und richteten sie auf die Bedürfnisse der externen Mächte aus. So unterblieb eine Industrialisierung, wie sie z. B. die unabhängige Türkei durchführte. Denn die arabischen Mandatsgebiete sollten Agrarprodukte und Rohstoffe liefern und im Gegenzug Fertigwaren europäischer Mächte importieren. Frankreich, Großbritannien und Italien stützten sich auf gefügige arabische Eliten, die auch nach der Gewährung einer formalen »Unabhängigkeit« (Ägypten 1922, Irak 1932, Libanon 1943) bereitwillig die europäischen Interessen förderten.

      Damit noch nicht genug: Mit offizieller Unterstützung des Völkerbunds und der Mandatsmacht Großbritannien wurde in dem 1918 zu fast 90 % arabisch besiedelten Palästina durch großzügige Einwanderungsförderung eine »jüdische nationale Heimstätte« begründet. 1948 rief die zionistische Bewegung einen neuen Staat Israel aus, erweiterte einseitig dessen Grenzen und vertrieb über 700 000 arabisch-palästinensische Bewohner in die Nachbarstaaten.

      Die Abschaffung des Kalifats durch den türkischen Staatspräsidenten Mustafa Kemal Atatürk im Jahr 1924 beraubte die (überwiegend muslimischen) Araber eines letzten einigenden Bandes und akzentuierte den Macht- und Identitätsverlust des Morgenlands gegenüber dem Abendland. Als Reaktion auf diese Entwicklungen wurden säkular-nationalistische und islamistische Bewegungen gegründet, die beide den Europäern den Kampf ansagten.

      Der Zweite Weltkrieg eröffnete den Arabern eine neue Chance. Frankreich, Großbritannien und Italien wurden erheblich geschwächt, während die USA und die Sowjetunion zu Weltmächten aufstiegen und die Entlassung der europäischen Kolonien in die Unabhängigkeit betrieben. Die Entkolonialisierung unterstützten auch die 1945 gegründeten Vereinten Nationen. In drei Artikeln der UN-Charta wird das »Selbstbestimmungsrecht der Völker« hervorgehoben.16

      Getragen von einer Welle überregionaler Begeisterung konnten in Schlüsselstaaten wie Ägypten, Algerien, Irak und Syrien nationalistische und sozialistische Massenparteien die Macht erobern. Bewegungen wie die »Nasseristen« (benannt nach dem ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser) und »Baathisten« (von baath, d. h. Wiedergeburt) versprachen eine rasche und gerechte Wirtschaftsentwicklung, den Aufbau einer starken und geeinten großarabischen Nation sowie die Befreiung Palästinas. Im Interesse einer schnellen Modernisierung von oben wurden Demokratie und Freiheitsrechte geringgeachtet oder auf später verschoben. Liberale oder sozialdemokratische Strömungen konnten sich nicht durchsetzen. Ihnen haftete auch der Makel an, Annexe ihrer europäischen Vorbilder zu sein und deren Interessen zu vertreten.


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