Arabischer Frühling ohne Sommer?. Martin Pabst
Weltmission, um im eigenen Land sowie international an Legitimität zu gewinnen. Der französische Soziologe und Arabist Gilles Kepel spricht von einem islamistischen »Überbietungswettbewerb« zwischen Saudi-Arabien, dem Iran und der Muslimbruderschaft.21
Moderate Islamisten nehmen am parteipolitischen Wettbewerb teil und greifen nicht zu Gewalt. Radikale Islamisten kämpfen mit begrenztem Einsatz von Gewalt in einem bestimmten Land für ein bestimmtes Ziel, wie z. B. für den Ersatz einer ungerechten Regierung durch eine islamisch geprägte Ordnung oder für die Befreiung Palästinas. Davon zu unterscheiden sind global agierende »Dschihadisten«, die nicht mehr lokal verortet sind, sich in einer apokalyptischen Entscheidungsschlacht zwischen dem christlichen Westen und der islamischen Welt sehen, zu unbegrenzter Gewalt greifen und auf eine islamistische Weltrevolution hinarbeiten. Ihre Ideologie ist ein radikalisierter Salafismus/Wahabismus.22
Der Wahabismus ist eine ultrakonservative Richtung des Islam. Er fußt auf der konservativen Rechtsschule der Hanbaliten.23 Entwickelt wurde er von dem Theologen Muhammad ibn Abd al-Wahab (ca. 1703–1792) aus Nedschd, einer Region im Innern der arabischen Halbinsel. Im Vordergrund steht bei ihm das aktive Bekenntnis zur absoluten Einheit Gottes (tauhid). Alle Abweichungen davon sind tabu. Der Wahabismus fordert nicht nur Orthodoxie, sondern auch Orthopraxie. Es genüge nicht, sich als Muslim zu bekennen, sondern tägliches, sichtbares Erfüllen der religiösen Pflichten sei notwendig. Ein islamisches Gemeinwesen müsse mithilfe strikter Vorgaben und harter Strafen gewährleisten, dass die Menschen nicht von diesem Pfad abweichen.
Jegliche Überhöhung des Menschen ist gemäß Abd al-Wahab strikt verboten, weswegen z. B. Geburtstagsfeiern und Grabdenkmäler abgelehnt werden. Nicht nur Heiden, sondern auch Juden, Christen, Schiiten und sogar sich abweichend verhaltende Sunniten erachtet Abd al-Wahab als Ungläubige bzw. vom Glauben Abgefallene. Der rechtgläubige Muslim habe den Kontakt mit ihnen zu meiden und sie zu bekämpfen. In der Urgemeinde von Medina erkennt er die ideale politische und soziale Ordnung. Das islamische Recht müsse auf wörtliche Auslegung von Koran und Sunna fußen. Auf die Tradition der Gelehrten wird nicht rekurriert. Die Altvorderen (salaf) seien die Vorbilder, die Zeit Muhammads und seiner ersten vier Nachfolger sei die strikt nachzuahmende »Goldene Zeit« des Islam.
Abd al-Wahab schloss 1744 mit Emir Muhammad ibn Saud einen Pakt mit wechselseitigem Treueid. Er erkannte die Herrschaft der Familie Saud an, während sich Muhammad ibn al-Saud verpflichtete, Wahabs religiöse Botschaft in seinem Machtbereich durchzusetzen. Dieser Pakt gilt bis heute im 1932 zum Königreich erhobenen Staat Saudi-Arabien. Auch im Emirat Katar ist der Wahabismus Staatsreligion. Er wird aber nicht so rigide wie in Saudi-Arabien durchgesetzt.
Ähnliche Ideen wie der Wahabismus vertritt die islamische Bewegung der Salafisten – in ihrem Namen steckt die Rückbesinnung auf Religionsverständnis und Religionspraxis der Altvorderen (salaf). Zunächst war die salafija eine Reformbewegung im 19. Jahrhundert, die den übermächtigen Einfluss der Tradition bekämpfte und dem Gläubigen wieder einen direkten Zugang zu Gott eröffnen und ihn von Aberglauben und Übertreibungen befreien wollte. Die durchaus vernunftorientierte salafija des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist heute allerdings überwiegend von einem dogmatischen, rückwärtsgewandten Salafismus verdrängt worden. Anders als beim staatsgeleiteten Wahabismus gibt es in der salafija viele Strömungen.24
Radikalislamistische und dschihadistische Terrorbewegungen wie al-Kaida und der IS berufen sich auf salafistisches bzw. wahabitisches Gedankengut. Doch ist im Gegenzug nicht jeder Salafist militant oder dschihadistisch orientiert. Das dogmatische Weltbild ist jedoch mit demokratischen Vorstellungen kaum vereinbar und kann als Ausgangspunkt für eine spätere Radikalisierung dienen. Al-Kaida wurde zur ersten weltweit agierenden dschihadistischen Organisation. Der »korrupten« Dynastie al-Saud erklärte sie den Krieg. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und vermehrten al-Kaida-Attacken in Saudi-Arabien bekämpfte das Königreich die Terrorbewegung in seinem Land und initiierte Deradikalisierungsprogramme. Doch fern der eigenen Grenzen nahm man es auch danach mit den Partnern nicht so genau, solange sie den eigenen außenpolitischen Zielen dienten. Das ebenfalls wahabitische Emirat Katar praktizierte noch viel länger eine riskante Außenpolitik und pflegte enge Beziehungen nicht nur zu den Muslimbrüdern, sondern auch zu Gruppierungen, die al-Kaida nahestanden. Darüber hinaus kamen erhebliche Finanzmittel für Dschihadisten auch von reichen Privatspendern und religiösen Stiftungen zahlreicher Länder.
Saudi-Arabien schürte ab den 1980er-Jahren konfessionelle Ressentiments gegen Schiiten, um den wachsenden geostrategischen und ideologischen Einfluss der Islamischen Republik Iran einzudämmen. Der saudisch-iranische Machtkampf eskalierte, als der Irak, die dritte Regionalmacht am Persischen Golf, ab 2003 durch die US-Militärintervention destabilisiert wurde und als eigenständiger Akteur ausschied. Der von konfessionellen und ethnischen Ressentiments aufgeladene Machtkampf zwischen Saudi-Arabien und dem Iran spaltete nicht nur Gesellschaften, sondern auch die arabische Staatenwelt, er ließ sogar den lange dominierenden israelisch-palästinensischen Konflikt in den Hintergrund treten. Saudi-Arabien verbündete sich vielerorts mit radikalen sunnitischen Gruppierungen, solange sie nur antischiitisch und antiiranisch waren.25
Auch in den USA gab es Befürworter dieser Strategie. Eine vom US-Militär finanzierte Studie der RAND Corporation identifizierte 2008 eine vereinigte und radikal antiwestliche islamische Welt als zentrale Bedrohung für die USA. Als Gegenstrategien wurden u. a. verschiedene Optionen einer »Teile und herrsche«-Politik entwickelt. So wurde zur Diskussion gestellt, entweder den sunnitisch-schiitischen Gegensatz grundsätzlich anzufachen oder die antischiitische Politik Saudi-Arabiens aktiv zu unterstützen. Letztere Option hätte den doppelten Vorteil, dass einerseits Druck auf den Iran ausgeübt würde und zugleich die Energien von al-Kaida statt auf die USA auf den neuen Hauptfeind Iran gelenkt würden.26
1.4 Machtzuwachs der Regionalmächte nach 1990
Nach 1990 veränderte sich die externe Akteurskonstellation in der arabischen Welt. Zu den USA und Russland sind die Türkei, der Iran und Saudi-Arabien als relevante Regionalmächte hinzugekommen, ergänzt durch das diskret im Hintergrund agierende Israel. Unverändert ist das Phänomen externer Abhängigkeit – der Handlungsspielraum vieler arabischer Staaten ist aufgrund ihrer politischen und ökonomischen Schwäche im Vergleich zu früher sogar geringer geworden. Nur die Golfmonarchien haben aufgrund der von 1998 bis 2008 stark steigenden Ölpreise erheblich an Bedeutung gewonnen. Kuwait-Stadt, Manama, Doha, Abu Dhabi, Dubai, Riad und Dschidda sind zu Zentren rasanter wirtschaftlicher Entwicklung geworden.
Die UN-mandatierte »Koalition der Willigen« (1991) nach der irakischen Annexion von Kuwait dokumentierte den vorübergehenden Aufstieg der USA zur unipolaren Supermacht. Die Koalitionsstreitkräfte unter Führung der USA umfassten 22 Staaten, darunter aus Nordafrika und Nahmittelost Ägypten, Bahrain, Kuwait, Marokko, Oman, Saudi-Arabien, Türkei, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und sogar das bislang im sowjetischen Lager stehende Syrien.
Im Jahr 2003 initiierten die USA einen nicht vom UN-Sicherheitsrat genehmigten Krieg gegen den Irak. Hierfür brachten sie sogar eine 43köpfige »Koalition der Willigen« zustande. Aus Nordafrika, dem Nahen und Mittleren Osten zählten diesmal Jordanien, Katar, Kuwait, Oman, Saudi-Arabien, die Türkei und die VAE dazu. Sie unterstützten die Koalition politisch, aber keines dieser Länder entsandte Truppen. Saudi-Arabien und andere arabische Staaten lehnten den Krieg grundsätzlich ab, da sie zu Recht befürchteten, dass der Sturz Saddam Husseins die arabische Regionalmacht Irak destabilisieren und im Gegenzug den Einfluss des Irans stärken würde.
Das ehrgeizige Projekt von US-Staatspräsident George W. Bush zur Demokratisierung des »Greater Middle East« unter seiner im Jahr 2005 verkündeten »Freedom Agenda« scheiterte.27 Der Irak konnte nicht als »Leuchtturm« der Demokratisierung dienen, sondern entwickelte sich im Gegenteil zum regionalen Brandherd und zu einem gescheiterten Staat. Das Mächtegleichgewicht in Nahmittelost war zerstört. Im Irak erodierte der gesellschaftliche Zusammenhalt. Nationalistische und dschihadistische Kräfte erhielten Auftrieb, und Nachbarstaaten strebten danach, das neu entstandene Vakuum zu besetzen. Ab 2011 breitete sich die Instabilität vom Irak auf andere arabische Staaten wie Jemen und Syrien aus.
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