Arabischer Frühling ohne Sommer?. Martin Pabst
Ben Ali/Trabelsi-Clans höchst unbeliebt seien, ja sogar gehasst würden.2 Versuche der Regierung, Wikileaks zu blockieren, hatten nicht funktioniert.
Zwanzig Jahre früher hätte der Fall Bouasisi zwar vor Ort Aufsehen erregt, aber nie überregionale Bedeutung erlangt. Doch über die sozialen Medien und private Satellitensender wurde das Ereignis im Nu bis in die Hauptstadt Tunis und von dort in die gesamte arabische Welt weitergetragen. Bilder erster Demonstrationen von Verwandten am Tag nach dem Vorfall wurden geteilt und weitergeleitet. Bald kam es auch in der Hauptstadt zu größeren Solidaritätskundgebungen, die sich in den Medien rasch verbreiteten.
Akzentuiert wurde das Ereignis durch die Tatsache, dass Bouasisi noch bis zum 4. Januar im Krankenhaus lag, bevor er dann seinen schweren Brandverletzungen erlag. Das Bild des weiß einbandagierten Körpers wurde zur Ikone des Opfers staatlicher Repression. Auch der Besuch von Staatspräsident Zine El Abidine Ben Ali am Bett des sterbenden Bouasisi konnte daran nichts ändern – im Gegenteil: Allzu spät hatte der autoritär regierende Präsident auf den Vorfall reagiert. Der in den Medien herausgestellte Krankenhausbesuch ähnelte den allgegenwärtigen steifen Politinszenierungen, und das der Mutter angebotene Handgeld in Höhe von 10 000 Euro hinterließ einen schalen Beigeschmack.
Nur zehn Tage nach Bouasisis Tod war Ben Alis Herrschaft zu Ende. Zunächst in der Provinz, dann in der Hauptstadt kam es zu anwachsenden Protesten und Streiks, die von der hier trotz aller staatlichen Behinderungen in Ansätzen existierenden Zivilgesellschaft unterstützt wurden: Gewerkschaftsfunktionäre, Journalisten, Menschenrechtsanwälte
Abb. 4: Tunesiens autokratischer Staatspräsident Zine El Abidine Ben Ali herrschte mittels der Einheitspartei RCD, unterstützt durch Polizei und Geheimdienste.
und Stammesälteste stellten sich hinter die Proteste. Die Repression von Polizei, Präsidentengarde und Geheimdiensten fachte die Wut der Bürger nur noch an. Parolen wie »Nein zu Ben Ali« und »Ben Ali tritt zurück« wurden in dem zuvor rigide kontrollierten Land von immer mehr Menschen gerufen. Als der Staatspräsident am 13. Januar den Armeechef Raschid Amar bat, ihm zu Hilfe zu kommen, lehnte dieser ab. Auf einer Kundgebung erklärte er: »Die Armee ist die Garantin der Revolution«.3 Im Unterschied zu Polizei und Geheimdiensten war die kleine Wehrpflichtigenarmee denn auch in der Vergangenheit vom Staatspräsidenten schlecht behandelt und kurz gehalten worden. Die regierungsferne Stellung der Armee war eine Besonderheit Tunesiens und erleichterte hier den Sturz des Regimes. In anderen arabischen Staaten ist die Armeeführung entweder eng mit dem Regime vernetzt oder sogar selbst der primäre Machtfaktor.
Erzürnt entließ Ben Ali seinen Armeechef, doch half ihm auch dieser Schritt nichts mehr. Nach eskalierenden Protesten kündigte Ben Ali am Abend des 13. Januar im Fernsehen an, nicht erneut für das Präsidentenamt kandidieren zu wollen. Einen Tag später folgte der in Panik geratene Autokrat seiner bereits nach Dubai geflohenen Frau Leila in seinem Regierungsflugzeug ins Exil am Golf – der frühere Mentor Frankreich wollte ihn nun nicht mehr aufnehmen. Die »Jasmin-Revolution« hatte gesiegt. Bezeichnenderweise war es das autokratische Saudi-Arabien, das dem Ehepaar schließlich Zuflucht gewährte.
In Dschidda konnte Ben Ali bis zu seinem Tod im September 2019 gut leben: Gemäß einer Untersuchung der Weltbank von 2014 zweigte der gierige Ben Ali/Trabelsi-Clan, der über 200 Unternehmen kontrollierte, 21 % der Gewinne des Privatsektors ab. Im Verlauf der über 20-jährigen Regierung kamen auf diese Weise an die 50 Mrd. USD zusammen, die teilweise ins Ausland transferiert wurden.4 Dem nicht genug: Bei ihrer Flucht soll Leila Ben Ali auch noch Goldbarren in großem Umfang aus der Staatsbank entwendet haben.5
Bis zum Schluss seiner Herrschaft genoss Ben Ali die Unterstützung der französischen Regierung. Zum Jahreswechsel 2010/11 verbrachte die französische Verteidigungsministerin Michèle Alliot-Marie ihren Urlaub in einem Hotel des tunesischen Geschäftsmannes Asis Miled aus dem engsten Umfeld von Ben Ali und war von dessen Privatjet abgeholt worden. Ihre Familie machte Immobiliengeschäfte mit dem tunesischen Unternehmer. Auf dem Höhepunkt der Proteste sagte die Ministerin der tunesischen Regierung polizeiliche Hilfe und Ausrüstungsunterstützung zu. Erst kurz vor Ben Alis Flucht blockierte das Außenministerium die bereits auf dem Pariser Flughafen verladenen Tränengasgranaten und anderen Ausrüstungsgegenstände.6
2.1 Überregionale strukturelle Defizite
Bouasisis Selbstverbrennung war der Auslöser für eine Protestwelle – die Ursachen lagen tiefer. Die 22 arabischen Staaten litten an strukturellen politischen, ökonomischen, demographischen und ökologischen Defiziten. Die Unfähigkeit bzw. der Unwillen der Regierungen, diese Probleme zu lösen, kulminierten in einer nicht überraschenden übernationalen Protestbewegung.
Machtarroganz, Repression, die Ineffizienz der Verwaltung, miserable Lebensbedingungen für einen Großteil der Bürger sowie außenpolitische und wirtschaftliche Marginalisierung hatten zu wachsender Unzufriedenheit geführt und die staatliche Legitimität infrage gestellt. Durch ein hohes jährliches Bevölkerungswachstum von durchschnittlich 2 % waren die Gesellschaften sehr jung, und ein Viertel bis ein Drittel der Jugendlichen in den arabischen Staaten war arbeitslos. Dem stand eine z. T. massiv überalterte Führungsschicht entgegen, die ihre Privilegien hartnäckig verteidigte.
Die Nutzung moderner Medien gab protestierenden Jugendlichen zumindest für kurze Zeit einen gewissen Vorsprung vor den staatlichen Sicherheitskräften, die auf diesem Gebiet noch Nachholbedarf hatten. In dreierlei Hinsicht nutzten sie erfolgreich neue Medien: Erstens konnten die Jugendlichen damit überregional Unterstützer werben und zu Protesten aufrufen, zweitens hatten sie nun mithilfe von Mobiltelefon und Messengerdiensten ein dem Polizeifunk ebenbürtiges Führungsmittel bei Demonstrationen zur Verfügung, drittens konnten sie ihre politischen Ziele übers Internet und die sozialen Netzwerke im In- und Ausland kommunizieren und die Regierungen durch Bilder brutaler Polizeigewalt delegitimieren.
Angefacht wurde die Unzufriedenheit durch überteuerte Grundnahrungsmittel. Im Jahr 2008 war es infolge des Klimawandels wie auch infolge vermehrter Produktion von Biotreibstoffen zu einer Welternährungskrise gekommen. Besonders Syrien war schwer getroffen, wo zusätzlich von 2006 bis 2010 eine extreme Dürre herrschte. Hinzu kam, dass China 2010 eine Missernte hatte. Daher kaufte es auf dem Weltmarkt überproportional viel Getreide auf, weswegen die Preise ab Jahresmitte in die Höhe schossen.7
Energieexportierende Staaten wie Algerien und die Golfmonarchien glichen den Preisanstieg mit großzügigen staatlichen Subventionserhöhungen, Gehaltsanhebungen für Staatsbeamte, der Schaffung neuer Arbeitsstellen und Schuldenerlass aus. Beispielsweise nahm der saudische König Abdullah im Februar 2011 stolze 37 Milliarden USD für ein solches Maßnahmenpaket in die Hand. Die Menschen in den energiereichen Staaten wurden daher nur in begrenztem Maß von der Protestwelle erschüttert. Hingegen war dieses Instrument für ärmere Staaten wie Ägypten, Jemen, Syrien oder Tunesien nicht möglich. Hier kam es zu starken Protesten.
2.2 Der Funke springt von Tunesien nach Ägypten
Es war nicht überraschend, dass der Funke der tunesischen Revolution ins benachbarte Ägypten überschwappte. Das Nachbarland war nach außen liberaler, hier waren im Unterschied zu Tunesien halblegale zivilgesellschaftliche Gruppierungen geduldet. Die Entwicklungen im Nachbarland gaben diesen Auftrieb und Selbstvertrauen. Beherzt nutzten sie die Gunst der Stunde und riefen dazu auf, das seit 1981 dauernde Regime von Staatspräsident Hosni Mubarak zu beenden.8
In Ägypten hatten die sozialen Netzwerke bereits in den Monaten zuvor ein Klima der Entrüstung geschaffen. Am 6. Juni 2010 schlugen und traten zwei Zivilpolizisten in Alexandria den 28-jährigen Blogger Khaled Said auf offener Straße zu Tode. Zuvor hatte er im Internet Fälle von Polizeikorruption enthüllt. Die Polizei behauptete, er sei an dem Haschischbeutel gestorben, den er angeblich verschluckt habe, um einer Kontrolle zu entgehen. Doch Passanten hatten den Vorfall beobachtet und enttarnten die Lüge. Es kam zu spontanen Demonstrationen, und auf Facebook forderte die vielbesuchte Seite »Wir sind alle Khaled Said« mit aus dem Leichenschauhaus geschmuggelten