Arabischer Frühling ohne Sommer?. Martin Pabst
in das Geschehen ein, die von entstehenden Vakua profitierten: Radikalislamisten und Dschihadisten, nach Autonomie bzw. Unabhängigkeit drängende kurdische Kräfte sowie Stämme, Clans und mafiöse Organisationen.
Die internationale Staatengemeinschaft identifizierte nun den IS als Hauptfeind, den es zu bekämpfen galt. Der Fokus lag auf der 2014 gebildeten »Internationale Allianz gegen den Islamischen Staat«, die in Syrien und im Irak mit Luftschlägen gegen die IS-Kämpfer vorging. Durch ihr (in ideologischer Hinsicht problematisches) Militärbündnis mit den PKK-gesteuerten kurdischen »Syrisch-Demokratischen Kräften« (Syrian Democratic Forces; SDF) suchten die USA den IS auch am Boden niederzukämpfen sowie gleichzeitig einen Sperrriegel gegen das weitere Vordringen des Irans zum Mittelmeer aufzubauen. Washington machte nun deutlich, dass man die al-Assad-Regierung nicht angreifen wolle – auch weil man der zersplitterten und immer stärker radikalisierten Opposition misstraute. Dies führte zu großer Enttäuschung bei gemäßigten Oppositionellen.
Der »Arabische Frühling« geriet ins Stocken, in Syrien (2011), Libyen (2014) und dem Jemen (2015) mündeten die Proteste in eine desaströse Mischung aus Bürgerkrieg und Stellvertreterkrieg. Dabei kam es zu einer rasch wachsenden Zahl ziviler Opfer, millionenfachen Flüchtlingsbewegungen und verbreiteter Zerstörung der Infrastruktur und Lebensgrundlagen.
Die komplexe Konflikt- und Akteurskonstellation führte zu wechselnden Allianzen und scheinbaren Paradoxen. Während sich der Iran mit den Protestbewegungen in anderen Ländern solidarisierte und sie mit der »Islamischen Revolution« 1979 im Iran verglich, stützte er in Syrien die autoritäre Herrschaft des Präsidenten al-Assad, weil er dort die Protestbewegung als von außen manipuliert erachtete – »In Syrien sehen wir die Hand der USA und Israels«,20 meinte der Oberste Geistliche Führer Ali Chamenei im Juni 2011. Im Gegenzug waren die Status-quo-Mächte Saudi-Arabien und VAE im Sonderfall Syrien bestrebt, den Sturz der al-Assad-Regierung herbeizuführen und dadurch den iranischen Einfluss im Nahen Osten zu schwächen.
Nach dem weitgehenden Niederkämpfen des IS bis März 2019 droht nun ein gewaltsam ausgetragener Wettlauf der externen Mächte um Einflusssphären. Bereits Anfang 2017 wäre es in Nordsyrien fast zu einer Dreiecksschlacht zwischen russischen, türkischen und US-Kräften gekommen. In Ostsyrien fand im Februar 2018 ein blutiges Duell zwischen US-Kräften und privaten russischen »Militärdienstleistern« statt, in Westsyrien im Januar 2019 ein Gefecht zwischen einer russisch ausgebildeten und einer iranisch ausgebildeten syrischen Armeeeinheit. Wahrscheinlich bombardierten russische Kampfflugzeuge im Februar 2020 vorrückende türkische Infanterieeinheiten in der syrischen Provinz Idlib, und in Libyen stehen sich seit demselben Zeitpunkt türkische Soldaten auf der Seite der Einheitsregierung und wahrscheinlich Soldaten der VAE auf der Seite des abtrünnigen Generals Chalifa Haftar gegenüber.
Seit 2018 reagieren iranische Kräfte auf israelische Luftangriffe in Syrien mit Gegenangriffen durch Drohnen- oder Raketenbeschuss auf israelisch kontrolliertes Territorium. Am Persischen Golf kam es 2019 zu Attacken auf Tanker, Ölanlagen und Kasernen, wobei die Urheber im Dunkel blieben. Doch dürfte es sich um eine verdeckte Auseinandersetzung zwischen dem Iran auf der einen und den USA, Saudi-Arabien und den VAE auf der anderen Seite handeln. Ein offener Krieg zwischen den regionalen und globalen Mächten würde die Großregion noch weiter destabilisieren und bislang noch konfliktfreie Länder einbeziehen.
2.5 Gewinner unter den externen Mächten
Zieht man nach einem Jahrzehnt eine Zwischenbilanz, so sind Russland, der Iran und Israel die Gewinner unter den externen Einflussmächten.
Im Jahr 2015 machte Moskau mit einem Paukenschlag in Syrien deutlich, dass es die Entwicklungen in der arabischen Welt mitbestimmen wird. Im September des gleichen Jahres folgte das Land einer Einladung der al-Assad-Regierung und intervenierte militärisch aufseiten der Regierungskräfte. Dies geschah mit begrenztem Kräfteeinsatz: ca. 60 Kampfflugzeuge, ca. 25 Kampfhubschrauber, maximal 4 000 Soldaten, ergänzt durch private »Militärdienstleister«. Einerseits will Russland seinen langjährigen Partner (und Schuldner) an der Macht halten, andererseits ist es bestrebt, Radikalislamisten und Dschihadisten schon weit vor dem eigenen Staatsgebiet zu bekämpfen. So kämpften in Syrien zahlreiche Extremisten aus Russland, z. B. Tschetschenen, Dagestaner und andere. Die aus der Zeit des Kalten Kriegs noch bestehende Marinebasis Tartus ergänzte Russland um einen neuen Luftwaffenstützpunkt in Hmeimin bei Latakia an der syrischen Mittelmeerküste. In Syrien konnte es über 200 Waffensysteme zur Anwendung bringen, wodurch die russische Rüstungsindustrie einen großen Aufschwung erfuhr. Darüber hinaus knüpft Moskau vom Sprungbrett Syrien aus an alte Verbindungen an und strebt eine vom Irak über Syrien und Ägypten bis nach Libyen und möglicherweise Algerien reichende russische Einflusszone an. So besuchte Wladimir Putin 2015 und 2017 Ägypten, das zum Ärger Washingtons hochmoderne Su-35-Kampfjets in Russland bestellte. Von Nordafrika aus hat Russland auch seine Beziehungen zu vielen afrikanischen Staaten südlich der Sahara intensiviert.21
Am 10. Februar 2007 hatte Putin auf der Münchener Sicherheitskonferenz die kapitalistische Ausbeutung des Nahen und Mittleren Ostens durch den Westen kritisiert, die Radikalismus und Extremismus fördere. Auch sprach er sich gegen eine monopolare Dominanz der USA aus.22 In einem Interview mit al-Dschasira am selben Tag kritisierte er die Widersprüche der USA bei der angeblichen Demokratisierung des arabischen Raums und schlug eine internationale sicherheitspolitische Konferenz im Verbund mit der LAS vor. Als die einflussreichen internationalen Akteure bezeichnete er damals »die USA, Europa und Rußland«.23 Die Konferenz kam nie zustande, doch Russland engagierte sich nun immer stärker im arabischen Raum. Mit der Vermittlung eines internationalen Abkommens zur Vernichtung der syrischen Chemiewaffen gelang Moskau im September 2013 ein erster diplomatischer Coup.
Russland stimmt seine Nahmittelostpolitik mit der israelischen Regierung ab und hat dort mit den über 1 Mio. seit 1990 zugewanderten russischen Juden einen Fuß in diesem Land. In Syrien koordinieren beide Staaten die Luftraumüberwachung. Russland ist Partner Israels bei der Erschließung der Erdgasvorkommen im Mittelmeer und profitiert vom Technologietransfer. Gemeinsame Interessen sind die Bekämpfung islamistischer und dschihadistischer Bewegungen. Einer Demokratisierung der arabischen Staaten stehen beide Staaten skeptisch gegenüber.
Bemerkenswert ist die russische Annäherung an die Golfmonarchien. So kam es im Oktober 2019 zu einem Gipfeltreffen zwischen Präsident Putin und dem saudischen Kronprinzen Muhammad bin Salman in Riad. In den Bereichen Energie, Kernkraft und Agrarwesen wird eine enge Kooperation angestrebt. Auch bot Putin dem langjährigen Alliierten der USA die Lieferung des modernen Luftwaffenabwehrsystems S-400 an.24 Russland und Saudi-Arabien teilen die Ansicht, dass Stabilität im arabischen Raum Vorrang vor Demokratisierungsbestrebungen hat, und sie arbeiten bei der Bekämpfung der (in Russland bereits seit 2003 verbotenen) Muslimbruderschaft sowie dschihadistischer Bewegungen zusammen.
Es gelang Russland sogar, die im Nahen und Mittleren Osten glücklos agierende Türkei dem Westen zu entfremden und sich anzunähern. Krönung dieses Vorhabens ist die Lieferung des Luftabwehrsystems S-400 an das NATO-Mitglied Türkei trotz massiver Bedenken der USA und der anderen NATO-Partner. In seiner Syrien-Politik ist der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan inzwischen von russischer Zustimmung abhängig, so bei seinen Militäroffensiven 2019 im Nordosten und 2019/20 im Nordwesten Syriens. Der geopolitische Vordenker und Putin-Berater Alexander Dugin formulierte als Ziel einen »Mittleren Osten ohne westliche Präsenz«, für dieses Projekt »brauchen wir die Türkei und den Iran als Alliierte«.25
Mit dem Iran koordiniert Russland die Anstrengungen zur Stützung der al-Assad-Regierung. Nach Abschluss des vom Sicherheitsrat unterstützten Nuklearabkommens mit dem Iran (2015) sagte Moskau Teheran trotz US-amerikanischer Einsprüche die Lieferung des älteren Luftabwehrsystems S-300 sowie von Kampflugzeugen, Hubschraubern und Artillerie zu. Gasprom modernisiert die iranische Energieindustrie, und auch im Agrarwesen, der Industrie und dem Telekommunikationswesen wurden Kooperationen vereinbart. Russland unterstützt eine Vollmitgliedschaft des Irans in der wirtschafts- und sicherheitspolitischen Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ). Im Sommer 2019 fand erstmals ein gemeinsames Marinemanöver im Golf von Oman von China, Russland und dem Iran statt.
Freilich