Arabischer Frühling ohne Sommer?. Martin Pabst
Islamismus ausgeschaltet wurde, konnten Dschihadisten wie der IS in die Lücke vorstoßen.
Eine solche Entwicklung war durchaus im Interesse der reaktionären Kräfte: Mit der zynischen Alternative »Wir oder die Barbaren« warben sie um Unterstützung und konnten sich so nach innen wie nach außen als das kleinere Übel präsentieren.
Ohne Verschwörungstheorien das Wort zu reden, muss konstatiert werden, dass eine brutale Terrorbewegung wie der IS vielen Akteuren ins Konzept passte. Die Brutalität des IS und anderer Akteure wurde zur Einschränkung von Freiheiten und zur Legitimation von militärischen Interventionen instrumentalisiert. Videoclips von brutalen Gefangenenhinrichtungen oder Zerstörungen kultureller Monumente durch Dschihadisten nutzten nicht nur dem IS, sondern auch allen Kräften, die eine Demokratisierung bremsen wollten.
Auch aus Deutschland wissen wir, dass Geheimdienste extremistische Bewegungen nicht nur unterwandern, sondern auch instrumentalisieren wollen. Dies wurde auch in arabischen Staaten versucht. So hielten syrische Geheimdienstmitarbeiter den Kontakt zu islamistischen Extremisten aufrecht, die sie zwischen 2003 und 2011 in den Irak eingeschleust hatten, um den dort stationierten US-Truppen Probleme zu bereiten. Zu Beginn des Konflikts amnestierte die syrische Regierung inhaftierte Radikalislamisten und Dschihadisten. Das Vorgehen verschaffte der Regierung in Damaskus vorübergehende Erleichterung, wurden die Aufständischen damit doch von einem weiteren Gegner in die Zange genommen. Außerdem liefen desillusionierte Rebellen zu radikalislamistischen Organisationen über, womit der Aufstand international diskreditiert wurde. Die Verbindungen zwischen der syrischen Regierung und dem IS dürfen aber nicht übertrieben werden – bisweilen wird der IS gar als Kreatur des Assad-Regimes dargestellt.18 Es handelte sich um eine befristete wechselseitige Duldung. Denn im Unterschied zu al-Kaida geht der IS grundsätzlich keine Bündnisse ein. Wer sich ihm nicht anschließt, ist sein Feind und wird brutal bekämpft. Ab 2014 griffen IS-Kämpfer ohne Rücksichtnahme syrische Regierungskräfte an und massakrierten in großer Zahl gefangen genommene Soldaten.
2.4 Interventionen von außen
Mit Ausnahme der Golfmonarchien stellten die arabischen Staaten im Jahr 2011 keinen Machtfaktor mehr dar. Der geostrategisch bedeutende Raum von Ägypten über Palästina, Jordanien, den Libanon und Syrien bis in den Irak war aufgrund seiner komplexen Bevölkerungsstruktur besonders leicht zu destabilisieren und wurde zum Austragungsort einer erbitterten Mächtekonkurrenz. Um die Besetzung des Vakuums stritten die verbliebenen arabischen Regionalmächte Saudi-Arabien und Katar mit Israel, dem Iran und der Türkei, Russland, den USA, Frankreich und Großbritannien. Die hohe Zahl rivalisierender Einflussmächte ist auch ein Beleg für die nach 1990 entstandene Multipolarität in der Weltordnung.19
Vom Ausbruch einer überregionalen Protestbewegung wurden die externen Akteure überrascht, wie z. B. das Lavieren von Staatspräsident Nicolas Sarkozy zwischen Hilfsangeboten für die Ben Ali-Regierung zum Jahreswechsel 2010/11 und demonstrativer Unterstützung für die libyschen Rebellen ab März 2011 dokumentiert.
Die externen Mächte stellten sich bald auf die neue Lage ein. Sie betrieben Schadensbegrenzung und versuchten, die Entwicklungen politisch, ökonomisch und militärisch zu beeinflussen. Besonders aktiv waren die selbstbewusst gewordenen Regionalmächte Iran, Katar, Saudi-Arabien und Türkei. Sie konnten auch deshalb Handlungsspielräume nutzen, weil sich die USA unter Barack Obama gemäß seiner Devise »Führen von hinten« zurückhielten, just im Jahr 2011 ihre letzten Kampfverbände aus dem Irak abzogen, keine neuen Verwicklungen in orientalische Kriege anstrebten und ihre Interessen über ihre Bundesgenossen Türkei und Katar einbrachten. Im Jahr 2011 bildeten sich drei rivalisierende Lager heraus:
1. das von der Türkei und Katar angeführte, mit den USA, Frankreich und Großbritannien verbundene und auf kontrollierte Veränderungen unter Führung der Muslimbruderschaft setzende »sunnitische Transformationslager«;
2. die vom schiitischen Iran angeführte, auf Transformation unter Führung antiwestlicher, proiranischer Kräfte setzende »Achse des Widerstands«;
3. das von Saudi-Arabien und anderen arabischen Golfstaaten angeführte und diskret von Israel unterstützte »sunnitische Status quo-Lager«.
Es entwickelte sich eine erbitterte Konkurrenz, die erstens vom eskalierenden Konflikt zwischen Saudi-Arabien und dem Iran, zweitens vom Wettstreit zwischen den sunnitischen Regionalmächten Saudi-Arabien und der Türkei und drittens von der neu belebten Rivalität zwischen den USA und Russland geprägt wurde. Damit wurde die nationale Transformation von den Rivalitäten auf regionaler und globaler Ebene überlagert. Die Konfliktkonstellationen beeinflussten sich wechselseitig.
Problematisch für die USA war, dass sich ihre Partner bald zerstritten. Auf der einen Seite standen Katar und die Türkei, auf der anderen Ägypten, Bahrain, Saudi-Arabien und die VAE, und später machte sich auch wachsende Konkurrenz zwischen Saudi-Arabien und den VAE bemerkbar. Der bis heute anhaltende Zwang zur Balance stellte die US-Politik vor große Herausforderungen.
Die vergleichsweise gewaltarmen Machtwechsel in Ägypten und Tunesien lösten immense Hoffnungen in der gesamten Region aus. In Libyen wurde der bewaffnete Aufstand von der NATO-geführten Militärallianz unterstützt und mündete in dem Sturz und der Tötung des Gewaltherrschers al-Gaddafi. Dies erhöhte die Erwartungen in der Großregion. Unter dem Eindruck der Geschehnisse in Libyen entschlossen sich Teile der syrischen Protestbewegung und die Exilopposition Mitte 2011 zum bewaffneten Aufstand. Denn man rechnete mit massiver politischer und militärischer Unterstützung des Westens und wurde von ihm auch zur Rebellion ermuntert.
Doch hatten die USA, Frankreich und Großbritannien das mit Zustimmung Chinas und Russlands verabschiedete UN-Sicherheitsratsmandat zum Schutz der libyschen Zivilbevölkerung überdehnt. Mittels gezielter NATO-Luftangriffe, dem Einsatz von Spezialeinheiten und Waffenlieferungen an Rebellen wurde al-Gaddafi gestürzt. Fortan machten China und Russland deutlich, keine weiteren Sicherheitsratsmandate mehr zuzulassen, die einen gewaltsamen Regimewechsel förderten. Damit waren UN-mandatierte Flugverbotszonen oder humanitäre Schutzzonen in Syrien kein Thema mehr.
Eine weitere Wegmarke bildete im März 2011 die militärische Intervention Saudi-Arabiens und der VAE in Bahrain zur Stützung der sunnitischen Minderheitsdynastie al-Chalifa gegen die (nicht nur schiitische) Protestbewegung. Damit sollten »rote Linien« gegenüber den Bevölkerungen auf der arabischen Halbinsel wie auch gegenüber dem Gegenspieler Iran aufgezeigt werden. Das Quidproquo mit Libyen war offenkundig: Katar hatte damals den Vorsitz in der LAS und organisierte zusammen mit den VAE eine befürwortende Stellungnahme für das von Frankreich, Großbritannien und den USA angestrebte Sicherheitsratsmandat für einen Militäreinsatz in Libyen. Just drei Tage vor Verabschiedung der Libyen-Resolution rückten am 14. März 2011 saudische und emiratische Truppen in Bahrain ein und schlugen dort die Protestbewegung nieder. Während der Westen al-Gaddafi und al-Assad anprangerte, hat sich bis heute keine einzige Sicherheitsratsresolution mit der Lage in Bahrain befasst. Das Messen mit zweierlei Maß zeigte auf, dass Frankreich, Großbritannien und die USA in erster Linie nicht Werte, sondern Interessen im arabischen Raum verfolgen.
Es folgte am 3. Juli 2013 der Staatsstreich des Militärs im Schlüsselland Ägypten, der von Bahrain, Saudi-Arabien und den VAE sowie aus dem Hintergrund von Israel unterstützt wurde. Die Muslimbruderschaft wurde nun in Ägypten und in den Golfstaaten verboten und konsequent verfolgt. Saudi-Arabien und die VAE sind kompromisslose Gegner der Muslimbrüder, die mit ihrem Konzept einer »islamischen Demokratie« für die Monarchien weit gefährlicher sind als die schwachen linken oder liberalen Kräfte in den konservativ-religiösen Gesellschaften. Besonders allergisch reagieren die VAE auf die Muslimbruderschaft, da sie dort bereits eine gewisse Anhängerschaft gefunden hatte.
Damit wurde die stärkste und am besten organisierte politische Kraft im Transformationsprozess ausgeschaltet, es entstand ein ideologisches Vakuum. Der 3. Juli 2013 war eine Wegmarke bei der Wiedererstarkung des reaktionären Lagers in der arabischen Welt. Ähnlich wie China sind Saudi-Arabien und die VAE von der Überlegenheit ihres autoritären Herrschaftsmodells überzeugt und wollen es in der Region verbreiten. Ihr Vorgehen richtet sich gleichermaßen gegen eine »islamische Demokratie« wie gegen eine »liberale