Arabischer Frühling ohne Sommer?. Martin Pabst
Initiatoren der Protestbewegung nicht. Wenn sie sich den Demonstrationen schließlich anschlossen, waren die Aktivisten häufig misstrauisch, da sie fürchteten, dass ihre Forderungen verändert oder abgeschwächt würden. Hinzu kam ein grundlegendes Misstrauen gegen Parteien, da deren Kooptierung und Instrumentalisierung durch autoritäre Regime eine lange Tradition hatte. Arabische Parteien sind zudem häufig Wählervereine für einflussreiche Persönlichkeiten. Gemäß dem Motto »Viele Häuptlinge, wenige Indianer« wurden in Ländern wie Ägypten, Libyen und Tunesien seit 2011 zahlreiche programmatisch kaum unterscheidbare Parteien mit ehrgeizigen Führern gegründet.
Die Folgen der von außen diktierten neoliberalen Strukturanpassungsmaßnahmen, die sich verschärfende sozio-ökonomische Ungleichheit in vielen Ländern im Zeitraum 2000–2011 und die Abhängigkeit von westlichen Staaten und Institutionen hätten eigentlich wie in Lateinamerika das Wiedererstarken linker Bewegungen begünstigen müssen. Sozialisten und Kommunisten nahmen zwar aktiv an den arabischen Protesten teil, doch konnten sie keine Massen mobilisieren und keine überzeugende Alternative aufzeigen.
In erster Linie profitierten islamistische Bewegungen von der Unzufriedenheit. Sie positionierten sich als Kritiker des Westens und versprachen eine gerechte islamische Gesellschaft. In ihren Parteinamen dominieren Begriffe wie »Gerechtigkeit«, »Wohlfahrt« und »Entwicklung«. Freilich darf nicht übersehen werden, dass die meisten islamistischen Bewegungen mit Bezug auf den Koran wirtschaftlichen Erfolg als gottgewollt erachten und daher tendenziell kleinbürgerlich-marktwirtschaftlich ausgerichtet sind. Ihr soziales Programm ist vage und erschöpft sich häufig in der Armenfürsorge.12 Nur im schiitischen Bereich gibt es eine starke linksislamistische Tradition, deren Vordenker der iranische Soziologe und Historiker Ali Schariati (1933–1977) war.13
Beim Beginn der Protestbewegung überwogen patriotische Motive und nationale Reformziele, so hatten in Ägypten Demonstranten mit dem Slogan »Muslime und Christen vereint für ein neues Ägypten« demonstriert, in Syrien hatten die Demonstranten skandiert: »Wir sind alle Syrer!«. Doch bald brachen Interessengegensätze zwischen Stadt und Land, zwischen Regionen, Bevölkerungsgruppen und Religionsgemeinschaften auf. Solche Gegensätze wurden von den Gegnern einer Demokratisierung geschickt angeheizt bzw. instrumentalisiert.
In Ägypten kamen 2013 die »neu-alten« Elten wieder an die Macht, und in Syrien wurden die teils säkularen, teils islamistischen Aufständischen von zwei Seiten in die Zange genommen. Im Westen eroberte Anfang Juni die proiranische, mit der syrischen Regierung verbundene libanesische Hisbollah-Miliz den strategisch wichtigen Ort al-Kusair zurück. Dies legte den Grundstein für Assads Verbleib an der Macht. Zwischen August 2013 und Januar 2014 nahm der IS Rakka ein und vertrieb die Rebellen aus dem Osten des Landes. Schließlich sagte US-Präsident Barack Obama am 9. September 2013 nach einem der syrischen Regierung zugeschriebenen Chemiewaffeneinsatz in Ghuta den geplanten militärischen Vergeltungsschlag ab – trotz der von ihm ein Jahr zuvor für diesen Fall angekündigten »roten Linie«. Auch wenn der französische Staatspräsident François Hollande auf ein Eingreifen drängte: Der Partner Großbritannien hatte Obama im Stich gelassen, und auch im US-Kongress war ein hinreichender Rückhalt nicht absehbar.14
Nun fuhren die USA die Unterstützung der syrischen Rebellen herunter. Zunehmend fanden sich die USA und ihre europäischen Verbündeten mit einem Verbleib al-Assads an der Macht ab. Stattdessen stand ab 2014 die Bekämpfung der aggressiven und medial dominierenden Terrororganisation IS im Vordergrund. Deren brutale Gewalttaten vor Ort wie auch in Europa banden die Energien des Westens. Diese Situation wurde vom Iran und von Russland dazu genutzt, ihre strategischen Ziele in Nahmittelost durchzusetzen.
Viele westliche Beobachter hatten im »Arabischen Frühling« vor allem das Streben nach Freiheit gesehen, doch standen am Anfang ökonomische Forderungen, denn die Lage breiter Volksschichten war in vielen Ländern desaströs. Von Reformkräften gebildete Regierungen wurden in erster Linie daran gemessen, wie schnell sie erkennbare wirtschaftliche Verbesserungen umsetzen konnten, erst in zweiter Linie an ihren Demokratisierungserfolgen. Doch war es aufgrund der Versäumnisse der alten Regierungen schwer, kurzfristig ökonomische Verbesserungen zu erzielen. Hinzu kam, dass sich ausländische Investoren und Touristen in der politisch instabilen Übergangsphase zurückhielten. Daraus resultierten in vielen Ländern ein gebremstes Wachstum und vermehrte Arbeitslosigkeit.
Nicht selten machten die neuen Regierungen auch den Fehler, die drängenden Wirtschaftsprobleme zu vernachlässigen und sich auf emotionale, öffentlichkeitswirksame Streitfragen zu konzentrieren, wie z. B. die Rolle der Religion im öffentlichen Raum. Es verwundert daher nicht, dass die Regierungen tendenziell an Vertrauen verloren – nach dem Motto: »Demokratie mag schön und gut sein, aber man kann sie nicht essen.«
Natürlich konnten Polizei und Geheimdienste ihren vorübergehenden Rückstand rasch aufholen. So lieferte der Iran der syrischen Regierung ab April 2011 Technologie, um E-Mails, Mobiltelefone und soziale Netzwerke zu überwachen.15 Der Marktführer auf diesem Gebiet ist China, es bietet elektronische Überwachungs-, Aufklärungs- und Datenspeichertechnologie wie auch Software zur Filterung oder Blockierung des Internets. Systeme für die digitale Fälschung von Filmen, Bildern und Stimmen ermöglichen Desinformation und die Diskreditierung von Gegnern. Auch westliche Firmen sind beteiligt, so haben US-Firmen Systeme zur Gesichtserkennung an Saudi-Arabien und die VAE geliefert.16
In der Euphorie des Jahres 2011 wurde zudem übersehen, wie gut organisiert die »neu-alten« Machteliten waren. In den Transformationsstaaten hielten sie sich zunächst im Hintergrund, diskreditierten oder instrumentalisierten die neuen Kräfte und bauten selbst Fassadenparteien auf. Sie beherrschten weiterhin große Teile des Sicherheitsapparats und der Wirtschaft, verfügten über erhebliche finanzielle Ressourcen, kontrollierten einflussreiche Medien und wurden von autoritären Staaten wie China, Russland und Saudi-Arabien unterstützt. Auch westliche Politiker fanden sich bald mit dem Wiedererstarken autoritärer Systeme ab, mit denen man vor 2011 politisch und ökonomisch gut zusammengearbeitet hatte.
Es ging nicht um die hundertprozentige Restitution der alten Regime, denn der Sturz von Präsidentenclans eröffnete den »neu-alten« Machteliten attraktive Positionen und Pfründe. Doch sind sie nicht an einer grundständigen Demokratisierung interessiert. Sie wollen allenfalls dem bestehenden System eine freundlichere Fassade verleihen.
In manchen Staaten initiierten die Regierungen schrittweise Reformen von oben, um Legitimität und Kontrolle zu behalten. Diesen Weg wählten z. B. die Monarchien Jordanien und Marokko sowie die vom Militär dominierte »Volksrepublik« Algerien. In der Tat ebbten die Proteste dort im Laufe des Jahres 2011 ab. Doch bereits Karl Marx hatte in seiner Schrift Der achtzehnte Brumaire des Louis Napoleon am Beispiel der Entwicklungen im Frankreich der Jahre 1848–1852 aufgezeigt, dass autoritäre Regierungen gerade dann eine besonders riskante Phase einleiten, wenn sie begrenzte Reformen anstoßen.17 Möglich sind gemäß Marx schrittweiser Kontrollverlust bis hin zur erfolgreichen Revolution, eine reaktionäre Machtübernahme der Armee oder auch ein populistischer Bonapartismus, wie 1851 durch Louis Napoléon, den späteren Kaiser Napoléon III., in Frankreich begründet. Marx war ein scharfsinniger Beobachter. Seine Analyse traf auch für die arabischen Staaten nach 2011 zu.
Andere Regierungen machten daher von Anfang an deutlich, dass sie einen von Demonstrationen angestoßen Systemwechsel konsequent verhindern würden. Rasch griffen sie zu massiver Polizei- und Militärgewalt, flankiert von Gegenpropaganda. Dazu zählten Libyen unter Muammar al-Gaddafi, Syrien unter Baschar al-Assad und die Golfmonarchien. In Libyen scheiterte die Strategie aufgrund der internationalen Militärintervention, doch in Syrien und den Golfmonarchien hatte sie Erfolg.
Der Staatsstreich des Militärs in Ägypten, der Zusammenbruch von Stabilität in Libyen und der eskalierende bewaffnete Konflikt in Syrien bremsten ab 2013 die Reformbegeisterung in der arabischen Welt. Nun traten die möglichen Risiken stärker in das Bewusstsein als die zu erwartenden Vorteile. Ernüchterung oder gar Resignation waren die Folge.
Die Eindämmung bzw. Ausschaltung oppositioneller Kräfte führten zu unterschiedlichen Reaktionen. Manche Aktivisten fanden sich nun mit dem Status quo ab oder setzten sich ins Ausland ab. Andere Oppositionelle radikalisierten sich und schlossen sich militanten oder gar