Diakonie zwischen Vereinslokal und Herrenmahl. Jan Quenstedt

Diakonie zwischen Vereinslokal und Herrenmahl - Jan Quenstedt


Скачать книгу
Es komme also darauf an, dass die exegetische Wissenschaft Motive diakonischen Handelns im Alten Testament so entfaltet, dass sie für den aktuellen diakoniewissenschaftlichen Diskurs fruchtbar gemacht werden können. Anhand der Erläuterung von fünf Kategorien skizziert Haslinger Anknüpfungspunkte für diesen Diskurs, um abschließend die „WahrheitWahrheit Gottes in der Diakonie“ festzuhalten.8 Aus alttestamentlicher Sicht sei die ZuwendungZuwendung zum Nächsten ein Resultat der Heiligkeit Gottes: „Das diakonische Handeln ist Nachvollzug des (zuvorkommenden) Handeln Gottes.“9 Die ZuwendungZuwendung zu den Marginalisierten werde zum „Ausweis für das Gott-Sein Gottes. […] Die Wahrheit Gottes besteht in seiner befreienden ZuwendungZuwendung zu den Notleidenden.“10 Mithin sei die „Diakonie“ als das Zentrum des Glaubens zu beschreiben.

      Haslinger beginnt seine neutestamentliche Grundlegung mit der Betrachtung von drei „Großtexten der Diakonie“. Es handele sich dabei um das NächstenliebegebotNächstenliebe (Mt 22,34–40Mt 22,34–40 parr.), das Gleichnis vom barmherzigen SamaritanerSamaritaner (Lk 10,25–37Lk 10,25–37) sowie um die WeltgerichtsredeWeltgerichtsrede in Mt 25Mt 25. Diese Texte würden traditionell zur Begründung diakonischen Handels herangezogen werden. Haslinger jedoch bleibt nicht bei dem Kriterium der Tradition stehen, sondern versucht, die aktuelle diakoniewissenschaftliche Relevanz der Texte zu entfalten. Das verbindende Element aller drei Texte stelle dabei die Rede vom Reich GottesReich Gottes dar. Sie formuliere, „wie der Mensch jetzt zu handeln hat, damit in seinem Leben jetzt das Nahe-Sein des Reiches GottesReich Gottes erfahrbar wird.“11 Anhand der Texte werde deutlich, „was der Mensch aufgrund seines Handelns und Verhaltens im irdischen Leben zu erwarten hat (oder auch verfehlt), wenn er am Ende der Zeiten vor seinem Gott Rechenschaft ablegen muss.“12 Mit der Rede vom Reich GottesReich Gottes sei das entscheidende Motiv genannt, das die drei „GroßtexteGroßtexte, diakonische der Diakonie“ mit den folgenden Ausführungen zur „Botschaft vom Reich GottesReich Gottes als heilend-befreiende Praxis“13 verbinde. Haslinger untersucht dabei eine Vielfalt an synoptischen Evangelientexten14, anhand derer er meint, Aussagen zur heilvollen ZuwendungZuwendung Gottes zum Menschen treffen zu können. Er zeigt damit, dass „Jesu Botschaft vom Reich GottesReich Gottes eine bedingungslose heilend-befreiende ZuwendungZuwendung zum Mitmenschen als ermöglichte Handlungsfolge (nicht als Bedingung) der freien, unverfügbaren Heilszuwendung Gottes zum Menschen [erfordert].“15 Diese Heilszuwendung Gottes evoziere „ein Handeln aus dem neuen Existenzverständnis des Menschen, von der sicheren Heilszusage Gottes getragen zu sein.“16 Im Handeln des Menschen komme es darauf an, die Qualität des Reiches GottesReich Gottes erfahrbar werden zu lassen.

      Im Anschluss entfaltet Haslinger den Zusammenhang zwischen der Rede vom Reich GottesReich Gottes und der „Diakonie“ anhand von Wundererzählungen über Jesus, Erzählungen über die Tischgemeinschaften Jesu und den Gleichnissen Jesu. Es werde deutlich, dass Jesu Botschaft vom Reich GottesReich Gottes und seine diakonische Praxis in eins fallen und nicht voneinander zu trennen sind. Das bedeute: „Die Botschaft Jesu besteht in seiner diakonischen Praxis.“17 Anhand dieser Verbindung könne ein zwischenmenschliches Verhalten, das sich an der Praxis Jesus orientiere, „das heilend-befreiende Handeln der Menschen unter- und füreinander das Ereignis der ansatzhaften Vergegenwärtigung des Reiches GottesReich Gottes im Leben der Menschen“18 sein. Somit werde jegliches diakonisches Handeln zum authentischen Zeugnis von Gott. Dieses Handeln sei „nicht die Relativierung, sondern die Radikalisierung des christlichen Glaubens.“19

      1.2.4.3 Kritische Würdigung

      Positiv zu würdigen ist an erster Stelle die Exegese der diakonischen GroßtexteGroßtexte, diakonische. Exemplarisch sei auf die Darstellung der einzelnen Handlungen und handelnden Personen im Gleichnis vom barmherzigen SamaritanerSamaritaner verwiesen. Diese Exegese kann gar als „diakonische Exegese“ bezeichnet werden, insoweit sie ihre Aussagen mit Fokus auf das diakonische Handeln bzw. auf diakonische Motive trifft. Zugleich besteht darin offensichtlich aber auch die Gefahr einer Engführung auf bestimmte Themenkreise und Motive.

      Offen bleibt, welche Kriterien leitend für die Auswahl der diakonischen GroßtexteGroßtexte, diakonische waren. Schlüssig scheint der Hinweis, dass die Texte durch die Tradition legitimiert seien. Wahrzunehmen ist in diesem Zusammenhang auch die Ausblendung der neutestamentlichen Briefliteratur, obgleich sich diese durch ein gehäuftes Vorkommen des Wortfeldes um διακονέω zur Betrachtung anbietet. Ist die Leitfrage von Haslinger, „inwiefern die Diakonie in der Beziehung Gottes zum Menschen gründet“1, so könnte unter dieser Perspektive auch das paulinische Verständnis von „Diakonie“ in den Blick kommen, um zu einer theologischen Beantwortung der Frage in biblischer Perspektive zu gelangen.

      Insgesamt ermöglicht die Studie von Haslinger ihren Leserinnen und Lesern einen historischen und theologischen Zugang zur Diakonie, der darüber hinaus auch ökonomische und soziale Fragestellungen aufgreift. Damit wird sie ihrem Ansinnen gerecht, für Mitarbeitende „in den verschiedenen Feldern der sozialen Arbeit der Kirche“2 Reflexionsmöglichkeiten zu bieten und zur theoretischen Fundierung ihrer Arbeit beizutragen.

      1.2.5 „Diakonik. Grundlagen – Konzeptionen – Diskurse“

      Unter dem Titel „Diakonik. Grundlagen – Konzeptionen – Diskurse“1 haben JohannesJohannes Eurich und Heinz Schmidt 2016 eine Einführung in die „Diakonie“ und DiakoniewissenschaftDiakoniewissenschaft herausgegeben. Die Zuordnung des Bandes in die Reihe „ELEMENTAR. Arbeitsfelder im Pfarramt“2 verdeutlicht die praktische Relevanz, die die Diakonik nach Ansicht der Herausgeber in der pfarramtlichen Praxis besitzt.

      1.2.5.1 Aufbau

      Der vorliegende Band nähert sich dem Gebiet der Diakonik durch sieben verschiedene Themenbereiche an:1 Zunächst werden biblische Grundlagen dargestellt (Kapitel eins), die im Rahmen dieser Bestandsaufnahme noch näher entfaltet werden. Daran schließen sich Hinweise zur Geschichte der Diakonie (Kapitel zwei) und zu Stationen ihrer konzeptionellen Entwicklung (Kapitel drei) an. Mit diesen drei Themenbereichen sind gleichsam die theoretischen Grundlagen für die folgenden Themenkomplexe gelegt. Mit ihnen wird die „Diakonie“ innerhalb gesellschaftlicher Prozesse (Kapitel vier) verortet und werden ihre HandlungsfelderHandlungsfelder (Kapitel fünf) beschrieben. Eine Engführung der Thematik auf Entwicklungen innerhalb Deutschlands vermeidet der Sammelband durch einen Blick auf die „Internationale Diakonie“2 (Kapitel sechs). Überlegungen zur „Diakonie als Wissenschaft“3 (Kapitel sieben) beschließen den Band.

      1.2.5.2 Inhalt

      Für die vorliegende Bestandsaufnahme ist die Darstellung biblischer Grundlagen der Diakonik von besonderer Bedeutung. Aus diesem Grund werden im Folgenden die Überlegungen von Manfred Oeming1 und von Renate Kirchhoff2 skizziert.

      Oeming beginnt seine Darstellung mit der Einsicht, dass die Bibel „zahlreiche Impulse für diakonisches Handeln“3 enthalte. Er gewinnt diese Erkenntnis aus der Wahrnehmung, dass sich insbesondere das Alte Testament intensiv mit dem Schicksal armer Menschen befasse.4 Aber nicht allein arme Personen stünden im Fokus des Alten Testaments: „Die hebräische Bibel kümmert sich […] in einem für die zeitgenössische altorientalische Literatur ganz ungewöhnlichen Umfang um das Denken und Fühlen von WitwenWitwe und Waisen, von Ausländern und Fremdlingen, von kranken Menschen auch mit Behinderung und von sozial ausgegrenzten Minderheiten.“5 Grundlagen dieser außergewöhnlichen ZuwendungZuwendung, die sich mit Lev 19,18Lev 19,18 auf einen prägnanten Satz bringen ließe, seien Israels eigene Erfahrungen in Sklaverei und Exil, sein Bild eines Gottes, der für die Rechte aller seiner Geschöpfe eintrete und zu seiner imitatio aufrufe sowie „die ethische Botschaft der Tenach, vor allem der Propheten.“6 Im weiteren Fortgang seines Beitrags entfaltet Oeming die „Diakonie“ in alttestamentlicher Perspektive und etabliert sie in Bezug auf den „Kampf gegen die ArmutArmut“7, welchen er für verschiedenste Gruppen marginalisierter Personen (u.a. Alte, WitwenWitwe, Waisen, Fremde, Menschen mit Behinderung) durchbuchstabiert. In seiner Lesart verbinden sich mit dem Kampf gegen ArmutArmut als der Grundlage diakonischen Handelns in alttestamentlicher Perspektive bereits „Ansätze organisierter Diakonie“8. Oeming sieht diese Ansätze in den Institutionen des Sabbats,


Скачать книгу