Diakonie zwischen Vereinslokal und Herrenmahl. Jan Quenstedt

Diakonie zwischen Vereinslokal und Herrenmahl - Jan Quenstedt


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sich der „Ansatz eines diakonischen Programms [verbinden lasse, JQ]: nicht die ganz große Revolution, auch nicht die radikale Reform der Gesellschaft, sondern sinnvolle Veränderungen im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten dieser Welt in einem moderaten, aber doch entschiedenen Ton. Die Menschen guten Willens, die Gottes Wohlgefallen haben, sollen alles ihnen nur Mögliche tun, den Armen aus ihrer elenden Situation herauszuhelfen.“10 Oeming schließt mit einem Plädoyer, die Tora im „Sinne ihrer Grundintention zu einer biblisch fundierten Armendiakonie“11 weiterzudenken.

      Im Anschluss an den Beitrag von Oeming thematisiert Renate Kirchhoff die neutestamentlichen Grundlagen diakonischen Handelns und beginnt diese mit der hermeneutischen Vorbemerkung, dass „[f]ür jede Darstellung biblischer Grundlagen gilt, dass sie auf einer kontextuell bedingten Sicht auf (wiederum ausgewählte und perspektivisch wahrgenommene) heutige LebenslagenLebenslage basiert und insofern bereits ein Ausdruck eines Vorwissens und einer Vormeinung über Welt und Text ist.“12 Mit dieser Einsicht verbindet Kirchhoff den Hinweis, dass „die Relevanz der Texte ein Ergebnis der Zuschreibung von AutoritätAutorität und der Herstellung von Bezügen zwischen Text und Lebenslage durch den Interpreten bzw. die Interpretin ist.“13 Zum Gewinn einer Art hermeneutischen Schlüssels, der zum Verständnis diakonischen Handelns im Kontext des Neuen Testaments dient, bestimmt sie dieses als „helfendes Handeln, dessen Subjekt Kirche ist.“14 Insgesamt liegt ihren „Ausführungen […] das Ziel zugrunde, mit der Deutung von LebenslagenLebenslage mittels des Bezugs auf biblische Texte und Traditionen dazu beizutragen, dass Zielgruppen sozialen Handelns sich mehr Lebensqualität erschließen können.“15 Im Anschluss an diese Zielbestimmung bietet Kirchhoff einen Überblick über die Forschungsgeschichte zum griechischen Diakonie-Begriff, der an dieser Stelle nicht wiederholt werden muss.16 Überlegungen zum „Jesus der Diakonie“17 illustrieren die enge Verbindung zwischen der „Diakonie“ und der Jesusüberlieferung, die sich nach Kirchhoff aus seiner Funktion als Repräsentant des Reiches GottesReich Gottes, aus seiner Betonung der NächstenliebeNächstenliebe und seinen Heilungen und Exorzismen ergeben würde. In diesem Zusammenhang konstatiert Kirchoff, dass LiebeLiebe und insbesondere NächstenliebeNächstenliebe als „ein Schlüsselbegriff der Selbstlegitimation christlicher helfender und solidarischer Praxis“18 anzunehmen sei und besonders „die Orientierung an der NächstenliebeNächstenliebe als ein inklusives Merkmal von Kirche und Diakonie zu verstehen ist: Sie ist ein notwendiges, aber kein exklusives Merkmal von Kirche und Diakonie.“19 Weiterhin versucht Kirchhoff zu zeigen, dass die NächstenliebeNächstenliebe im Kontext des Neuen Testaments eine vielfältige Gestalt besitzt, die sich an den Schutzbestimmungen für bestimmte Personengruppen20 ebenso zeigen würde, wie an Bestimmungen zur Gestaltung wirtschaftlicher Beziehungen21. Abgeschlossen werden ihre Ausführungen durch Hinweise zur „Organisation von Hilfe und SolidaritätSolidarität“22, in deren Rahmen u.a. das paulinische KollektenprojektKollektenprojekt Beachtung findet.23

      1.2.5.3 Kritische Würdigung

      Die beiden dargestellten Beiträge bieten einen instruktiven Einblick in den Umgang der biblischen Schriften mit marginalisierten Personengruppen und insofern einen Eindruck von der Praxis und möglichen Begründungen sozialer HandlungsvollzügeHandlungsvollzüge. Besonders gelungen erscheinen die am Ende bzw. inmitten eines jeden Beitrags abgedruckten Impulse, die zu einer Reflexion der wahrgenommenen Überlegungen einladen und die Grundlage einer intensiven Beschäftigung mit dem Thema der „Diakonie“ in biblischer Perspektive bieten.1

      Im Rahmen einer Frage nach biblischen Hintergründen in diakonischen Kontexten ist kritisch wahrzunehmen, dass der Aufsatz von Oeming keinen expliziten Diakonie-Begriff bietet bzw. seiner Untersuchung zugrunde legt. Vielmehr wird der Begriff der „Diakonie“ in alttestamentlicher Perspektive auf den Umgang mit bzw. den Kampf gegen ArmutArmut fokussiert und im Rekurs auf konkrete Belegstellen entfaltet. Damit verbunden ist die Etablierung von „Ansätze[n] organisierter Diakonie“2, welche eine interessante Perspektive auf den im Alten Testament skizzierten Einsatz für arme und marginalisierte Personen eröffnet. Das Fehlen eines explizit ausgeführten Diakonie-Begriffes verhindert aber die Beantwortung der Frage, ob es weitere dieser Ansätze im Rahmen des Alten Testaments gibt und ob sie möglicherweise anders fokussiert sind als allein auf den Kampf gegen ArmutArmut. Gleichermaßen wird dadurch die Erfüllung des von Oeming formulierten Arbeitsauftrags erschwert, der die Weiterentwicklung der „Hausordnung der Tora“3 „zu einer biblisch fundierten Armentheologie“4 fordert.

      Anders als Oeming bietet Kirchhoff eine Definition von „Diakonie“ und beschreibt sie – wie bereits angemerkt – als „helfendes Handeln, dessen Subjekt Kirche ist.“5 Mit dieser Definition ergibt sich für Rezipientinnen und Rezipienten die Möglichkeit zur eigenständigen Überprüfung der vorgetragenen Erkenntnisse. Allerdings stellt sich für die Untersuchung des Neuen Testaments die Frage, ob der Begriff der „Kirche“ ihren Überlegungen zu einer neutestamentlichen Grundlegung diakonischen Handelns angemessen ist. Eine Problematisierung der verwendeten Terminologie nimmt Kirchhoff für den Hilfe-, nicht aber für den Kirchenbegriff vor. Auffällig ist ferner die für eine neutestamentliche Grundlegung zuweilen sehr starke Fokussierung auf alttestamentliche Zusammenhänge. Besonders deutlich wird dieser Fokus im Abschnitt „1.2.4.1 Bestimmungen zum Schutz bestimmter Zielgruppen“6, der dezidiert „biblische Bestimmungen“7 referieren will. Allerdings werden in den Ausführungen zu alten Menschen, Sklavinnen und Sklaven sowie Armen keine neutestamentlichen Bezüge hergestellt, die zweifellos erhoben werden könnten. Für die Gruppe der WitwenWitwe rekurriert Kirchhoff lediglich auf Mk 12,38–40Mk 12,38–40 und Jak 1,27Jak 1,27, ohne aber die Perikopen weiter zu entfalten.8 Obgleich insbesondere die WitwenWitwe noch einmal unter „1.2.4.3.3 BeauftragungBeauftragung zu helfendem Handeln in den Gemeinden“9 thematisiert werden, erscheint eine Entfaltung hilfreich, die die alttestamentliche Tradition im Kontext des neutestamentlichen Zeugnisses berücksichtigt und nicht beide Corpora isoliert betrachtet. Mit dieser Entfaltung würde außerdem ein innerer Zusammenhang mit den Ausführungen von Oeming hergestellt werden, der so allerdings im Raum der Möglichkeiten verbleibt.

      1.3 „Diakonie“, Denkschriften und Leitbilder

      Für die exemplarische Betrachtung von DenkschriftenDenkschrift, LeitbildernLeitbild, PräambelnPräambel, SatzungenSatzung u.ä. erfolgt aus pragmatischen Gründen eine regionale Beschränkung auf den Bereich der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens sowie auf die Verlautbarungen der Diakonie Deutschland. Zudem ist bereits im Vorfeld darauf hinzuweisen, dass es sich weder bei DenkschriftenDenkschrift, noch bei LeitbildernLeitbild um dezidiert theologische Schriften oder gar wissenschaftliche Abhandlungen handelt. Gerade ein Leitbild hat sich in einem Spannungsfeld zu verorten, das sich aus seinem doppelten Adressatenkreis heraus ergibt: Einerseits dient es der Präsentation und Selbstdarstellung vor der Öffentlichkeit, andererseits soll es MotivationMotivation und Orientierung für die Mitarbeitenden bieten. Deswegen ist eine Begrenzung bei den theologisch-hermeneutischen Ausführungen der einzelnen Schriften nachvollziehbar und anzunehmen, nicht zuletzt im Sinne der allgemeinen Verständlichkeit.

      Voranzustellen ist außerdem, dass die Namen der Diakonischen Werke im Folgenden in Kurzform wiedergegeben werden. „Diakonie Sachsen“ bezeichnet in diesem Sinne das „Diakonische Werk der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens e. V.“. Mutatis mutandis gilt dieser Sprachgebrauch für die „Diakonie Deutschland – Evangelischer Bundesverband“: „Diakonie Deutschland“.

      1.3.1 Diakonie Deutschland

      1.3.1.1 Das Selbstverständnis

      Das SelbstverständnisSelbstverständnis der Diakonie Deutschland gibt einen Einblick in die inhaltliche Füllung des DiakoniebegriffsDiakoniebegriff, wie sie vom Diakonischen Werk selbst vorgenommen wird. Dabei wird das Wortfeld διακονέω κτλ. auf den Begriff „tätige NächstenliebeNächstenliebe“ bezogen.1 Begründet wird dieser Bezug mit der denkbaren Übersetzung als „Dienst“. Im Vergleich mit dem o.g. biblischen Befund zeigt sich darin eine mögliche Fokussierung auf einen Bedeutungsaspekt des Wortfelds, die durch die Bezeichnung der „Diakonie“ als „soziale[n] Dienst der evangelischen Kirchen“ verstärkt wird.2

      Inhaltlich beziehe sich


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