Diakonie zwischen Vereinslokal und Herrenmahl. Jan Quenstedt
Hörenden die Möglichkeit, in einen Dialog mit dem biblischen Text zu treten. Sie verleiht den angesprochenen Rezipientinnen und Rezipienten eine Stimme und ermöglicht es ihnen, allgemein menschliche Regungen zu verbalisieren und mit dem Text zu versprechen.17 Denkbar wäre dementsprechend, dass die Kantate möglichen – freilich biblisch nicht überlieferten – Gedanken einer der handelnden Personen Ausdruck verleiht. Damit eröffnet sich ein Raum, der es den Hörenden ermöglicht, sich konstruktiv mit den Aussagen der Perikope auseinanderzusetzen, um selbst in gewisser Weise Anteil an dem Gespräch zu bekommen.
Im Text der Kantate verschränken sich die Gottes- und die NächstenliebeNächstenliebe miteinander. Letztere wird – so formuliert Satz zwei – durch die vorrangige LiebeLiebe Gottes zum Menschen ermöglicht, die durch den Heiligen GeistHeiliger Geist einem jeden Gläubigen vermittelt und versichert werde.18 Die Besonderheiten der Kantate liegen in der „Betonung der Wirkung des Heiligen GeistesHeiliger Geist und der Gleichzeitigkeit von GottesGottesliebe- und NächstenliebeNächstenliebe (83) sowie in der Herausarbeitung des Unvermögens des menschlichen Willens (94–96).“19 Besonders evident werden diese Besonderheiten in den Sätzen drei bis fünf der Kantate. Vor diesem Hintergrund korrespondieren die dargestellten Bewegungen mit dem Geschehen in der EucharistieEucharistie: Gott gibt sich in der EucharistieEucharistie als Zeichen seiner LiebeLiebe den Kommunikanten hin. Aus dieser anabatischen Bewegung heraus kann sich die katabatisch-menschliche Bewegung der GottesliebeGottesliebe ergeben. BWV 77 kann so auch als musikalische Dogmatik verstanden werden, die en nuce an wesentliche Implikationen der EucharistieEucharistie erinnert. Sie kumuliert in Satz sechs, der die von Luther herausgestrichene Verbindung von sola fide, sola gratia, solus christus und sola scriptura als Ursprung der guten Werke benennt.20 Der erste und der letzte Satz bilden eine Klammer um die Kantate: Sie führt die Hörenden und Gläubigen vom fordernden Anspruch Gottes über das erleichternde Bekenntnis der eigenen Unzulänglichkeit hin zum GlaubenGlaube als Fundament ihres Lebens und Handelns.21 Der GlaubeGlaube wird zum Motor der Lebensgestaltung und zum Ermöglichungsgrund von GottesGottesliebe- und MenschenliebeMenschenliebe. In der EucharistieEucharistie wird dieser Zusammenhang sinnfällig verdeutlicht. Vor dem Hintergrund des denkbaren weiten Assoziationsraumes bietet die Kantate vielfältige Anknüpfungspunkte22 für die Rezipientinnen und Rezipienten, die sich in vielfältigen Aussagen wiederfinden könnten und sich damit dem Phänomen der Hilfe für den Nächsten annähern können.
1.6 „Diakonie“ und Alltagssprache
Für einen Einblick in das alltagssprachliche Verständnis von „Diakonie“ sind exemplarisch zwei Quellen heranzuziehen, die eine große Popularität in Deutschland genießen: Zunächst der entsprechende Eintrag im Duden sowie der entsprechende Eintrag in der deutschsprachigen Wikipedia.
Der Duden versteht „Diakonie“ als „[berufsmäßigen] Dienst an Hilfsbedürftigen (Krankenpflege, FürsorgeFürsorge usw.).“ Entsprechende Synonyme des Begriffs sind „FürsorgeFürsorge, Sozialhilfe, WohlfahrtWohlfahrt.“1 „Diakonie“ wird damit auf sozial-fürsorgliche Handlungen bezogen. Weitergehende Tätigkeiten innerhalb einer Gemeinde, wie z.B. MissionMission und VerkündigungVerkündigung, geraten ebensowenig in den Blick wie eine spezifisch christliche Bedeutung des Begriffes.
Im Unterschied zur Begriffsbestimmung im Duden entfaltet die deutschsprachige Wikipedia einen weiteren DiakoniebegriffDiakoniebegriff, indem sie unter „Diakonie“ „alle Aspekte des Dienstes am Menschen im kirchlichen Rahmen“2 versteht. Biblische Überblicke verdeutlichen dieses Verständnis. Dabei beziehen die Autorinnen und Autoren sowohl das Alte als auch das Neue Testament in ihre Darstellung ein.
In alttestamentlicher Perspektive rekurrieren die Verfasserinnen und Verfasser auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen (Gen 1,27Gen 1,27) und auf mehrere Stellen innerhalb der Gesetzeskorpora (z.B. Lev 19,33f.Lev 19,33f., Dtn 24,17Dtn 24,17). Parallel dazu werden entsprechende Belege in den Psalmen angegeben: Ps 8,5Ps 8,5 für die Gottebenbildlichkeit, bzw. Ps 82,3Ps 82,3 für die Sorge um Mittellose. Mit Jes 57,15Jes 57,15 wird die Nähe JHWHs zu den Armen betont.
In neutestamentlicher Perspektive kommen einige bereits mehrfach benannte Perikopen in den Blick. So erwähnt der Eintrag Erzählungen über Jesus, die diakonisches Handeln illustrieren und begründen würden. Benannt werden das Gleichnis vom barmherzigen SamaritanerSamaritaner (Lk 10,25–37Lk 10,25–37) sowie die WeltgerichtsredeWeltgerichtsrede in Mt 25Mt 25. Ferner wird Joh 5,5f.Joh 5,5f. als Beispiel für diakonisches Handeln herangezogen. Das Magnificat in Lk 1,46–55Lk 1,46–55 preise Gott als denjenigen, der sich der Armen annimmt. Das Summarium in Apg 2Apg 2 wird als Beleg für die „Diakonie“ der frühen Jerusalemer Gemeinde angeführt, die Wahl der ArmenpflegerArmenpfleger in Apg 6Apg 6 sei als Ersterwähnung des DiakonenamtsDiakon zu verstehen. Interessant mutet der alleinstehende Satz zum Diakonie-Verständnis bei PaulusPaulus an: „Paulus schließlich bezeichnet die Diakonie – das gegenseitige Lastentragen – als Erfüllung des Gesetzes Christi (Gal 6,2Gal 6,1–5).“ Obgleich das Umfeld von Gal 6,2 keinen Beleg aus dem διακον-Stamm bietet, wird hier eine inhaltliche Füllung des Lexems gesehen.
Es bedarf keines besonderen Hinweises, dass die deutschsprachige Wikipedia nicht als belastbare Grundlage für eine wissenschaftliche Studie herangezogen werden kann. Jedoch darf auch nicht außer Acht gelassen werden, dass Wikipedia zum Informationsstandard für eine breite Öffentlichkeit geworden ist, die die Möglichkeit einer niederschwelligen Information zu dem Begriff und seiner Füllung ermöglicht.3 Für die vorliegende Studie ist dieser Eintrag deshalb interessant, weil er einen Einblick in das populäre Verständnis von Diakonie zu bieten vermag. Zugleich ist vor dem Hintergrund der Aufrufstatistik anzunehmen, dass der Eintrag im Vergleich mit den Leitbildern, PräambelnPräambel, SatzungenSatzung etc. die größte Reichweite und deswegen einen größeren Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung besitzt als die genannten Verlautbarungen.
1.7 Zusammenfassung
Der erste Annäherungsversuch hat ein vielschichtiges Bild von „Diakonie“ ergeben. Primär wird der Begriff auf soziale bzw. fürsorgliche Tätigkeiten bezogen und repräsentiert in dieser Hinsicht eine Art „Corporate Identity“, die diesen Bereich kirchlichen Lebens für eine breite Öffentlichkeit erkennbar macht. Darüber hinaus zeigt der Annäherungsversuch aber auch, dass der biblische Befund für den semantischen Ursprung des Begriffs „Diakonie“ eine Bandbreite an Tätigkeiten und Handlungen mit dem Lexem διακονέω κτλ. verbindet. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Fokussierung des deutschen Begriffs der „Diakonie“ auf den Bereich des sozialen Handelns, wie sie u.a. im Duden durchgeführt wird, als Engführung.1 Allerdings ist diese Fokussierung als ein Resultat von historischen Entwicklungen und Gegebenheiten, also als ein Abbild einer gewachsenen Realität zu verstehen. Damit stellt sich aber die Frage nach dem innovativen Potenzial der Diakonie, wie sie gleich noch auszuführen ist.
Wahrzunehmen war ein weitgehender Verzicht auf explizite biblische Bezüge und Belege in den Verlautbarungen diakonischer WerkeDiakonische Werke und Verbände. Dieser Verzicht bedeutet aus exegetischer Perspektive in letzter Konsequenz eine permanente hermeneutische Aufgabe, durch die jeweils neu von den Adressatinnen und Adressaten der jeweiligen Verlautbarung der biblische Befund zu erinnern und in praktische Vollzüge einfließen zu lassen ist. Diese Aufgabe besteht in der Beantwortung der Frage: In welchem Verhältnis steht die allgemeine Rede von der Orientierung des Handelns an der Bibel zur konkreten Betrachtung der sog. diakonischen GroßtexteGroßtexte, diakonische? Welcher hemeneutische Schlüssel qualifiziert eine biblische Perikope vor einer anderen einen Beitrag zum Verständnis von „Diakonie“ zu leisten? Mit diesen Fragen korreliert die Feststellung, dass zwischen der diakoniewissenschaftlichen Forschung und den Verlautbarungen diakonischer WerkeDiakonische Werke und Verbände so gut wie keine expliziten Verbindungen erkennbar sind. Die Formulierung von LeitbildernLeitbild u.ä. vollzieht sich in dieser Hinsicht weitgehend ohne Bezug zum gegenwärtigen Forschungsstand.2 Damit stellt sich aber auch die Frage, ob sich die Diakonie als eine innovative Organisation versteht, die ihre eigenen hermeneutischen Grundlagen reflektiert und aufzeigt.
Insgesamt ist deutlich geworden, dass es sich bei „Diakonie“ um ein komplexes Phänomen handelt, dass die Fachwissenschaft ebenso beschäftigt wie gesellschaftliche und kulturelle Diskurse. Vor diesem Hintergrund