Prinzessin Christine. Helle Stangerup

Prinzessin Christine - Helle Stangerup


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sich alle in ihrem neuen Land.

      Es war eine Ewigkeit her, daß Christine darum gefleht hatte, und ihre Gedanken kehrten zurück zu dem Brief.

      Der Herzog hatte gesagt, sie müsse sich nicht die Mühe machen, selbst zu schreiben, könne einem ihrer Sekretäre diktieren. Christine erwiderte, daß sie ihm in diesem Punkt nicht zu gehorchen gedenke.

      Die Damen sprachen unablässig darüber, was ihre Kusine in der Ehe mit dem lasterhaften Alexander zu erwarten habe, dem es kürzlich eingefallen war, in Frauenkleidern durch die Straßen von Florenz zu reiten und allen antiken Statuen den Kopf abzuschlagen. Christine überlegte einen Augenblick, ob sie ihnen den Mund verbieten sollte, hielt es aber für zwecklos. Fünf Minuten später würden sie von vorne anfangen, denn es widersprach ihrer Natur, zu schweigen.

      Christine hatte noch nie Menschen erlebt, die so viel Schönes mit ihren Händen zu schaffen vermochten, aber auch nie jemanden getroffen, der so viel redete wie die Italiener.

      Sie redeten vom Aufwachen bis zum Schlafengehen. Die Kammerzofen erzählten, wenn sie ihre Kleider in Ordnung brachten, die Hofdamen, wenn sie nähten. Sogar während der Messe hörte sie die wispernden Stimmen. Und sie redeten über alles.

      Christine hatte schnell Italienisch gelernt, schneller als ihre Umgebung damit gerechnet hatte, und deshalb erfuhr sie nach und nach, daß ihre Ehe keine Ehe war, solange der Herzog nur ihre Hand küßte. Sie hatte zugehört, zuerst verständnislos, dann verwirrt, erschrocken, aber auch neugierig, und bis Neujahr kannte sie Worte auf italienisch, die sie nicht einmal in ihrer Muttersprache gehört hatte. Sie verstand, warum ihre Tante den Herzog einen rechtschaffenen Mann nannte und daß es eine flämische Dienstmagd war, mit der der Kaiser seinen »Unfall« hatte, welcher nun den gräßlichen Alexander heiraten sollte. Die Damen behaupteten freimütig, daß er der Sohn von Kardinal Guilio und einer maurischen Sklavin sei und deshalb so auffällig einem Neger gleiche.

      Sie hatte das schadenfrohe Gelächter vernommen, als der König von England mit dieser Hure Anna Boleyn eine Tochter bekam und keinen Sohn. Sie wußte Bescheid, daß man Tage zählen mußte, um ein Kind zu kriegen, aber auch, um es zu vermeiden, und sich zur Sicherheit mit Alaun spülen sollte.

      Ein Page teilte mit, daß der Kurier bereit sei. Christine beendete hastig ihren Gruß, unterschrieb mit »Eure euch stets gehorsame Frau«, faltete den Brief und verschloß ihn mit ihrem Lacksiegel. So wenig hatte sie zum Ausdruck gebracht, und er litt so sehr.

      Nie hätte sich Christine vorstellen können, daß der Herzog für sie der vertrauteste Mensch in dem neuen Land werden würde, oder daß sie sich einmal danach sehnen würde, seine gebeugte Silhouette wiederzusehen und das Aufprallen der Krücke auf dem Marmorboden zu hören.

      Christine konnte Anordnungen erteilen. Jedem Wunsch wurde entsprochen, doch was sie fühlte und dachte, durfte niemals gezeigt werden.

      Äußerte sie eine Meinung über etwas anderes als die täglichen Geschäfte, wurde das zitiert, interpretiert und schließlich verdreht. Sie hatte gelernt, sich in ihren Äußerungen zu beherrschen, begriff aber nun, daß hier jedes Nicken, jedes Lächeln oder ein abwesender Blick zum falschen Zeitpunkt gedeutet wurde als Begeisterung oder Mißfallen oder gar feindliche Haltung gegenüber dem König von Frankreich oder dem Herzog von Mantua oder dem Papst in Rom. Christine war eine politische Person, und eine von einer Kammerzofe aufgeschnappte Bemerkung konnte leicht in den Rapport eines ausländischen Gesandten einfließen.

      Nur ein Mensch durfte ihre Gedanken erfahren. Das war der Herzog selbst. Und im Laufe der Zeit verbrachte sie immer mehr Stunden in seiner Gesellschaft. Er berührte nie etwas anderes als ihre rechte Hand, die er an seine Lippen führte. Er erzählte von der Geschichte Mailands, über das tragische Ende seines Vaters als Landesflüchtling und von seiner hochbegabten Mutter, die starb, als er noch klein war. Er lenkte ihre ersten Schritte in die Welt der Kunst, berichtete von der Domkirche, die man vor hundertfünfzig Jahren gebaut hatte. Er versicherte ihr immer wieder, daß sie Freude in sein Leben bringe, und allmählich fühlte sie, daß er das ehrlich meinte.

      Christine entdeckte, daß sie einen Willen hatte.

      Die Regentin hatte für reichlich Säume in ihren Kleidern gesorgt, aber als der Winter kam, war Christine so sehr gewachsen, daß sie neue Garderobe brauchte. Pelzwerk, Spitzen und Goldstickerei wurden natürlich abgetrennt, um wieder benutzt zu werden, aber was die Weitergabe der schönen Stoffe betraf, so hielt sie sich nicht an die Regeln, sondern bedachte diejenigen ihrer Damen, die ihn am dringendsten benötigten, statt die vornehmsten zu berücksichtigen. Das führte zu Mißstimmungen, und manch böser Blick traf sie. Doch dann lenkten wieder andere Ereignisse die Aufmerksamkeit der Damen auf sich. Der Klatsch am Hof blühte. Catharina von Medici und ihre Ehe mit dem Sohn des Königs von Frankreich standen nun im Mittelpunkt des Interesses.

      Christine seufzte. Vom Fenster aus sah sie eine Staubwolke über der Stadt liegen, Pferde und Karren wirbelten sie hoch.

      Alles war so anders als bei ihrem Einzug vor einem Jahr. Nachdem die Banner und Ehrenpforten verschwunden waren, sah sie verfallene Hütten, und als die Leute ihre Festtagsgewänder ausgezogen hatten, blieben oft nur Lumpen übrig. Aber die Lebensmittelpreise fielen in diesem Winter und linderten die Not, und falls der Frieden anhielt, würde der Wohlstand wiederkommen.

      Wenn Christine mit ihren Damen durch die Straßen ging, wenn sie den Marktplatz überquerte oder die Werkstätten der Glaser, Gobelinweber, Steinschleifer und Buchbinder besuchte, richteten sich die Blicke der Leute auf ihren Leib in der Hoffnung, daß sie ein Kind austrage, das das Geschlecht der Sforzas weiterführen und die Garantie eines Friedens einlösen konnte. Aber erst nach der Abreise des Herzogs nach Vigevano, als Christine in ihr vierzehntes Lebensjahr kam, zogen ihre Zofen ihr Laken ab und entführten es wie eine Siegestrophäe. Es war in der Hitze des Sommers, und sie nahmen schwatzend und kichernd Maß, damit der Schneider über der Brust Säume anbringen konnte. Sie versicherten ihr begeistert, daß sie, sobald der Herzog gesund zurückkehrte, bereits im nächsten Frühling, wenn die Mimosen blühten, einen kleinen Prinz gebären würde.

      Doch der Herzog blieb in Vigevano, und Christine schaute über die staubigen Hausdächer. Der Page meldete, daß der päpstliche Gesandte warte, später mußte sie eine Deputation der Uhrmacherzunft empfangen, und danach war eine Unterweisung in italienischer Literatur vorgesehen. Aber was auch immer geschah, mit welchen Pflichten oder Vergnügungen sie befaßt war, die Damen wichen nicht von ihrer Seite. Christine war nie allein.

      Vielleicht hatte sie sich deshalb so schnell an ihren viel älteren und kranken Gemahl gewöhnt. So wenig sie sich ein eheliches Zusammensein mit dem Herzog vorzustellen vermochte, hatte er ihr doch das Gefühl menschlicher Gemeinsamkeit gegeben, und der dumpfe Laut der Krücke auf dem Boden klang wie das Zusammentreffen mit einem lieben Verwandten aus fernen Landen. Manchmal hatte er Neuigkeiten, wie die Entwicklung des Bürgerkrieges in Dänemark, ein anderes Mal brachte er ihr eine seltene Blume oder Frucht mit, damit sie deren Schönheit bewundern oder den Geschmack genießen sollte.

      An einem Herbsttag, als sie von der Messe zurückkamen, wandte er sich an sie und nahm dabei wie gewöhnlich ihre Hand zwischen seine:

      »Was bedeutet das Wort ›far‹«?

      Es war ein kühler Morgen, Christine war mit ihren Gedanken weit weg, die frische Luft hatte Erinnerungen an Mechelen geweckt, und sie schaute ihn verständnislos an.

      »›Far‹, wiederholte er und hielt sie mit seinem Blick fest, und langsam dämmerte es ihr. Das war das Wort, das sie bei ihrer ersten Begegnung in Cussago gerufen hatte, das einzige Wort, das sie noch auf Dänisch wußte.

      »Padre«, flüsterte sie. Sie begriff, daß er lange darüber nachgedacht haben mußte, und fürchtete, er würde zornig werden wegen ihres Widerwillens in jenem Augenblick. Doch der Herzog blieb nur stehen, schaute sie an und sagte schließlich:

      »Traurig, daß auch Kinder schon Sorgen haben müssen.«

      Der Sommer hielt an, die Hitze hielt an. Die größte Neuigkeit des Jahres war die Niederlage der Türken in Tunis und wurde mit einem Te Deum in der Kathedrale gefeiert.

      Für Christine war


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