Machtspieler. Ronny Blaschke
und 2016 wurden jeweils um die 1.000 Menschen wegen „staatsfeindlicher Aktionen“ festgesetzt – 2017 waren es rund 4.000 Menschen. Immer wieder mit der Begründung, man müsse das Land vor der „wachsenden Bedrohung des Terrorismus schützen“.
Pavel Klymenko sagt: „Es gibt so viele Einschränkungen, die kann man mit einer WM nicht rückgängig machen.“ Klymenko besucht Ligaspiele in der Ukraine, Polen, Russland. Er dokumentiert Gewalt, Neonazi-Banner, SS-Runen und Affengeräusche gegen schwarze Spieler. „Jede Zusammenkunft von mehr als zehn Leuten zieht Aufmerksamkeit der Polizei auf sich. Bei unseren Aktionswochen hatten wir mal muslimische Fußballerinnen. Sie spielten mit Kopftüchern in einem Park und wurden von Sicherheitskräften sofort als Risiko wahrgenommen.“
In diesem Klima beschreibt Klymenko die Zivilgesellschaft als orientierungslos. Zwar sind die Zustimmungswerte für Putin noch immer vergleichsweise hoch, doch das Vertrauen in andere Staatsorgane ist gering. Nach einer Erhebung von Lewada sind nur sieben Prozent der Russen an Politik interessiert. Generell werde der Begriff des Politischen von vielen als verächtlich gedeutet, sagt der Osteuropa-Aktivist Ingo Petz, der 2014 das Begegnungsprojekt „Fankurve Ost“ mitbegründet hatte: „Politik ist für viele ein Synonym für Korruption und Machterhalt.“
Vieles davon wurzelt in den 1990er Jahren. Die Wirtschaft schrumpfte um fünfzig Prozent, viele Menschen verarmten. In dieser Umbruchphase kam eine kleine Elite aus Oligarchen, Politikern und Sicherheitskräften zu Macht und Wohlstand. 1999 übernahm Wladimir Putin die Regierung. Er profitierte von einem Wirtschaftsaufschwung und steigenden Rohstoffpreisen. Der Wunsch nach innerer Sicherheit und globaler Anerkennung prägten sein Handeln, dabei half ihm der Sport. Nach und nach stiegen Institutionen und Unternehmen des Staates bei Fußballvereinen ein. Energieriesen, Banken, Transportwesen. Der Staatskonzern und weltweit größte Erdgasproduzent Gazprom führte den Verein aus Putins Heimatstadt, Zenit St. Petersburg, in das europäische Spitzenfeld. Und er übernahm Partnerschaften mit Schalke 04 und Roter Stern Belgrad, ebenso mit den Verbänden UEFA und FIFA. So verknüpfte der Kreml Stränge von Politik und Wirtschaft im vermeintlich unideologischen Fußball, schreibt Timm Beichelt, Professor für Europa-Studien an der Viadrina in Frankfurt (Oder), in seinem Buch „Ersatzspielfelder“.
Doch mit Seilschaften in den Metropolen lässt sich das größte Land der Welt nicht regieren. Die Russische Föderation besteht aus 85 „Förderationssubjekten“. Republiken, Regionen, Gebiete – mit unterschiedlichen Glaubensrichtungen und Graden an Autonomie. Lokale Eliten wünschen sich Freiräume, im Gegenzug garantieren sie Loyalität. Mehr als ein Drittel der 16 Fußball-Erstligisten werden von ihren Regionalverwaltungen gestützt, erläutert der Politikwissenschaftler und Mitherausgeber des Buches „Russkij Futbol“, Martin Brand: „Die Regionen stehen im Wettbewerb zueinander. Ein erfolgreicher Verein kann Investoren anlocken und in der Bevölkerung Zustimmung sichern.“
Zur Homosexualität: kein Wort
Zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung in Russland gilt der Sport als unpolitisches und damit unverdächtiges Feld, davon kann die fragmentierte Zivilgesellschaft profitieren. Die kleine „Russian LGBT Sport Federation“ ist nicht – wie viele andere Menschenrechtsorganisationen – als „ausländischer Agent“ gelistet. Der Verband betont Gesundheitsförderung und Begegnungen. „Wir gehen kein Risiko ein“, sagt Alexander Agapov. Gegenüber Vermietern von Hallen präsentieren sich die Sportler als alte Schulfreunde. Zur Homosexualität: kein Wort. Sie nutzen die Hallen in den weniger gefragten Abendstunden. Sie kommen und gehen in kleinen Gruppen. Für manche Veranstaltungen schickt er jedem Publikumsgast die Anfahrtsbeschreibung persönlich. Ohne Flyer, Plakate, Online-Werbung.
Alexander Agapov ist viel unterwegs, bei Konferenzen in Düsseldorf, Bratislava oder Kopenhagen. Er stellt seine Arbeit bei NGOs und Botschaften vor. Manchmal wird erst seine dritte E-Mail beantwortet, manchmal gar nicht, manchmal lernt er jemanden kennen, der jemanden kennt. Vom russischen Fußballverband erhielt er lange keine Reaktion, auch von der FIFA fühlte er sich nicht ernst genommen.
Doch Agapov weiß, wie er sich Gehör verschafft, zum Beispiel im März 2018 in Zürich bei der FIFA-Konferenz zu „Gleichberechtigung und Inklusion“. In der ersten Podiumsrunde schildern drei Frauen, wie ihnen der Fußball eine höhere Lebensqualität beschert. So sympathisch und redegewandt, dass der Eindruck entsteht, der Fußball könne alle Krisen lösen. Kritische Töne über die Industrie Fußball kommen kaum vor. Als die Moderatorin die Diskussion fürs Publikum öffnet, hebt Agapov die Hand. Er fühlt sich unwohl, weil sein Kommentar nichts mit Entwicklungsprojekten in Afrika zu tun hat, nichts mit HIV-Prävention oder dem Schutz vor Landminen. Doch er weiß auch, dass es bei diesen Anlässen wenige Gelegenheiten zur Mitsprache gibt. Agapov erzählt den 250 Gästen, dass er bei FIFA und deren Sponsoren um Unterstützung gebeten habe, aber unbefriedigende Antworten erhielt. Und er kritisiert, dass Tschetschenien für das WM-Quartier Ägyptens zugelassen wurde; eine Region, in der Homosexuelle gefoltert und ermordet wurden.
Nach dem Kommentar Agapovs herrscht Stille, auf dem Podium fühlt sich niemand angesprochen. Sein Gesicht ist gerötet. Nach wenigen Minuten erhält er die ersten lobenden Nachrichten von Freunden, die den Livestream verfolgen. Einige Teilnehmer der Konferenz wundern sich auf Twitter und Facebook, warum die LGBT-Rechte bei der FIFA nicht deutlicher zur Sprache kommen. In der Mittagspause kann Agapov den Verbandsmitarbeitern seine Vorstellungen persönlich schildern. Daraus wächst eine stabile Zusammenarbeit.
Die positiven Folgen von 2018
Die WM bringt viele fortschrittliche Ideen aus der europäischen Fanarbeit nach Russland. Man kann sich davon im Moskauer Gorki-Park ein Bild machen. An einem kühlen Nachmittag treffen sich auf einem kleinen Bolzplatz Fußballfans aus unterschiedlichen Ländern zu einem Turnier. Am Spielfeldrand steht Elena Erkina und beantwortet Fragen auf ihrem Handy. Die Soziologin aus St. Petersburg ist gut vernetzt mit Aktivisten in ganz Europa. Im Interview berichtet sie von der EM 2016 in Frankreich, als russische Hooligans in Marseille auf englische Fans einschlugen. Erkina wollte die bedrohliche Stimmung in sachliche Bahnen lenken. Sie sprach mit friedlichen Fans, informierte Journalisten, vermittelte zwischen russischen Funktionären und französischen Polizisten. Sie hatte kaum Schlaf, aber als die Aufregung verschwand, wurde sie von allen Seiten gelobt.
Erkina wurde ins Sicherheitskomitee des russischen Fußballverbandes berufen, als erste und einzige Frau unter rund zwanzig Männern. „Manchmal schauen sie mich schief von der Seite an“, sagt sie. „Viele denken, Frauen haben im Fußball nichts verloren. Und wenn, dann höchstens als Übersetzerinnen oder Sekretärinnen. Es gehen heute zwar mehr Frauen in die russischen Stadien, aber meistens begleiten sie ihre Männer.“
Je durchlässiger eine Gesellschaft ist und je lauter sich ihre Minderheiten Gehör verschaffen können, desto verzweigter kann eine Zivilgesellschaft wachsen. In Russland wurde ein Gesetz erlassen, das häusliche Gewalt gegen Frauen weniger bestraft als früher. Abtreibungen werden erschwert, das Kindergeld wurde reduziert. Eine Initiative zur Gleichberechtigung hängt im Parlament fest. Dutzende Berufe bleiben Frauen verschlossen. Wladimir Putin forderte eine erfolgreiche Unternehmerin vor laufender Kamera auf, sie „möge ihren demografischen Pflichten nachkommen“.
Die Staatsmedien zeigen Putin mit freiem Oberkörper beim Jagen, Reiten, Angeln. Nur sechs Prozent der russischen Männer wünschen sich laut dem Lewada-Zentrum Frauen in der Politik, und bei den Frauen liegt die Zustimmung zu dieser Frage gerade mal bei dreißig Prozent. Wie kann es um Meinungsvielfalt und Interessenausgleich bestellt sein, wenn eine Hälfe der Gesellschaft so öffentlich an den Rand gedrängt wird?
„Wir brauchen sichtbare Vorbilder“, sagt Elena Erkina. „Das geht nicht über Nacht.“ Erkina weiß, wie sie wann und wo Argumente anbringen muss. Gegenüber europäischen Journalisten kann sie kritischer sein als in einem Hintergrundgespräch mit russischen Polizeivertretern. In den Jahren vor der WM berichteten westeuropäische Medien über eine neue Generation von Hooligans, gut vernetzt und durch die Kampfsportszene erprobt. Auch nach solchen Berichten schien der Kreml seine Sicherheitspolitik auszurichten: mit Verboten von Fangruppen, Vorratsdatenspeicherung, Drohungen gegenüber führenden Schlägern. Die Folge: Hunderte Hooligans zogen sich in den Untergrund zurück, während der WM ging von ihnen keine Gefahr aus. Ob sie