Machtspieler. Ronny Blaschke
zählt wie Nordrhein-Westfalen? Wie soll man über die Kriegsverbrechen sprechen, die weniger als dreißig Jahre zurückliegen?
Vielleicht hat Robert Prosinečki eine Antwort. Der Sohn eines kroatischen Vaters und einer serbischen Mutter hat als einziger Spieler für zwei Länder WM-Tore geschossen, 1990 für Jugoslawien und 1998 für Kroatien. Er gewann mit Roter Stern Belgrad 1991 den Europapokal der Landesmeister, 2010 kehrte er als Trainer zurück. „Im Krieg sind Dinge passiert, die wir nie vergessen werden“, sagt Prosinečki. „Aber das darf nicht unser Leben beherrschen.“ Er hat während des Krieges bei Real Madrid gespielt, täglich rief er bei seiner Familie und seinen Freunden in Zagreb an.
Robert Prosinečki hat als Trainer in der Türkei und in Aserbaidschan gearbeitet, seit 2018 betreut er das Nationalteam von Bosnien und Herzegowina. Er sitzt auf der Terrasse des Trainingszentrums in Zenica, einer Industriestadt nördlich von Sarajevo, und zündet sich eine Zigarette nach der anderen an. Man merkt schnell, dass Prosinečki nicht wirklich über Politik sprechen möchte. „Ich hatte nie Probleme wegen meiner Herkunft. Und mir ist scheißegal, woher die Leute kommen. Wir arbeiten als Team für gute Resultate, denn Fußball ist das beste Marketing der Welt.“
Vielleicht würde eine solche Haltung etwas Gelassenheit in den Alltag bringen, doch auch Robert Prosinečki muss sich als Trainer von Bosnien und Herzegowina mit Politik beschäftigen. Einer seiner Nationalspieler geriet in die Kritik: Ognjen Vranješ, geboren in Banja Luka, ließ sich 2015 den Grenzverlauf der Republika Srpska auf den Oberarm tätowieren. Viele bosniakische Fans forderten seinen Rauswurf. Und ihre Rufe wurden stärker, als sich Vranješ 2018 ein Tattoo von Momčilo Đujić zulegte. Der serbische Priester hatte im Zweiten Weltkrieg mit den Nazis kollaboriert und wurde als Kriegsverbrecher verurteilt.
Robert Prosinečki möchte lieber über Themen sprechen, die Hoffnung verbreiten: 2014 bestritt die Nationalmannschaft von Bosnien und Herzegowina ihre bislang einzige WM in Brasilien. Gleich im ersten Spiel verlangte sie Argentinien einiges ab, unterlag aber 1:2. Auch in Serbien und Kroatien haben Menschen für diese Leistung Respekt gezollt. „Da geht noch viel mehr“, sagt Robert Prosinečki. „Wir sprechen doch alle die gleiche Sprache.“ Vielleicht gibt es sie irgendwann wieder: die Solidarität unter Nachbarn. Vielleicht sogar mit dem einen oder anderen Freundschaftsspiel.
Offensive im Verborgenen
Russland mit seinen hundert Volksgruppen fehlt noch immer eine übergreifende Identität. Präsident Putin spannt für seinen Nationalismus auch den Fußball ein: Großereignisse wie die WM 2018 bringen Ansehen und begünstigen den Ausbau des Sicherheitsapparates. In der heimischen Liga vernetzen sich staatsnahe Unternehmen mit Regionalverwaltungen. Dieses Geflecht drängt die Zivilgesellschaft weiter an den Rand. Doch gerade im vermeintlich unideologischen Sport tinden Aktivisten neue Nischen.
Das Queerfest in St. Petersburg ist eine der letzten Möglichkeiten, um für wenige Tage aus dem Versteck zu kommen. Jeweils im September trifft sich die queere Gemeinschaft Russlands für Filmvorführungen, Ausstellungen und Vorträge. An einem der Festivaltage 2018 sitzt der Aktivist Alexander Agapov auf einem Podium mit zwei Diskutanten. Sie sprechen über die Fußball-WM, die kurz zuvor in Russland stattgefunden hatte. Plötzlich wird es unruhig im Publikum, Polizisten berichten von einer anonymen Bombendrohung. Sie wollen das Gebäude durchsuchen. Ihre offizielle Erklärung: Sie möchten die Teilnehmer „schützen“.
„Dieses Spiel kennen wir“, sagt Alexander Agapov, Präsident der „Russian LGBT Sport Federation“, des russischen Sportverbandes für sexuelle Minderheiten. Seit 2013 verbietet ein Gesetz in Russland, gegenüber Minderjährigen positiv über Homosexualität zu sprechen. „Polizisten und Behörden beziehen sich nie offen auf dieses Gesetz, sie wollen uns auf andere Art einschüchtern.“ Die abgebrochene Fußballdebatte des Queerfestes soll in einem anderen Stadtteil fortgesetzt werden, doch nur wenige der fünfzig Zuhörer treten den Weg mit der Metro an.
Drei Monate zuvor wird Alexander Agapov nicht aufgehalten. Am 14. Juni 2018 eröffnet das russische Nationalteam im Moskauer Luschniki-Stadion gegen Saudi-Arabien die WM. Immer wieder zeigen Kameras die Ehrentribüne. Russlands Präsident Wladimir Putin sitzt neben FIFA-Präsident Gianni Infantino und dem saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salam. Während Putin seine Eröffnungsrede hält, schwenkt Agapov auf der Tribüne eine Regenbogenfahne. Die offiziellen Kameras fangen dieses Bild nicht ein, aber in den sozialen Medien verbreitet es sich schnell.
In den Monaten vor und während der WM öffnen sich für Alexander Agapov Freiräume. Mit der „Russian LGBT Sport Federation“ veranstaltet er Public Viewings, Fußballturniere und Diskussionen. Er veröffentlicht Fotos von englischen Fans, die ungestört mit Regenbogenflaggen in WM-Städten posieren. Er gibt internationalen Journalisten Interviews und trifft Aktivisten aus vielen Ecken der Welt. Selten fühlt er sich von Polizisten beobachtet. Damit fügt er sich in ein Bild ein, das sich viele westliche Beobachter während der WM machen: Fans feiern friedlich in großen Gruppen, sogar Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit wird geduldet, die Polizei bleibt im Hintergrund. Scheinbar keine Spur von Hooligans, Rassismus und Homophobie.
Schon bald nach der WM berichten Korrespondenten wieder über Repression. Regelmäßig werden Proteste auseinandergetrieben. Ab Spätsommer 2019 nimmt die Polizei bei diversen Kundgebungen mehrere Tausend Demonstranten in Gewahrsam. Sie hatten gegen den Ausschluss von Oppositionspolitikern bei der Wahl zum Moskauer Stadtparlament protestiert. Auch Strafverfahren gegen kritische Regionalpolitiker nehmen zu. Am 21. Juli 2019 wird die Aktivistin Jelena Grigorjewa ermordet, jahrelang setzte sie sich für LGBT-Rechte und politische Gefangene ein. „Die WM war für uns eine Auszeit vom Alltag“, sagt Alexander Agapov. „Die Regierung fühlt sich nun noch stärker.“ Er findet, man sollte die Probleme ganzheitlich betrachten unabhängig von der WM.
Rauchbombe in der Sporthalle
Zivilgesellschaft: in vielen Ländern des Westens eine geachtete Partnerin des Rechtsstaates. In Russland gilt sie als Gegenbewegung zum Kreml – und als Projektionsfläche für dessen Sorgen vor dem Machtverlust. Seit der Wiederwahl Wladimir Putins zum Präsidenten 2012 zählten Menschenrechtler mehr als dreißig Gesetze und Gesetzesänderungen, die Bürgerrechte einschränken. Etwa 150 Organisationen waren oder sind als „ausländische Agenten“ gelistet. Darunter bekannte Einrichtungen wie Lewada, Memorial oder das Sacharow-Zentrum. Ihre Themen: Menschenrechte und eine differenzierte Aufarbeitung der Diktatur.
Auch Mitarbeiter von internationalen Stiftungen spüren den Druck durch Razzien, Verhöre, Bürokratie. 2012 gab es in Russland 400.000 nichtkommerzielle Organisationen, diese Zahl ist laut der Heinrich-Böll-Stiftung fast um die Hälfe geschrumpft. Tausende Aktivisten gaben erschöpft auf, gingen ins Ausland oder halten sich mit öffentlicher Kritik zurück. Die Lage mag trostlos erscheinen, doch etliche Organisationen wollen nicht aufgeben. Zum Beispiel jene von Alexander Agapov: „Wir stellen uns auf neue Herausforderungen ein. Wir müssen kreativ bleiben.“
Alexander Agapov ist Mitte dreißig. Ein nachdenklicher, wortgewandter Mann mit Interessen weit über den Sport hinaus. Er ist in schwierigen Verhältnissen in einem Moskauer Vorort aufgewachsen. Er war ein fleißiger Schüler und studierte Geschichte. Er merkte früh, dass er auf Männer steht, und so führte er bald das Leben eines Einzelgängers. Agapov wurde gemustert, bedroht, sogar überfallen. Über soziale Medien fand er die „Russian LGBT Sport Federation“. Der Sportverband für Lesben, Schwule und Transsexuelle zählt rund 2.000 Mitglieder in mehr als fünfzig Gemeinden, drei Viertel stammen aus Moskau und St. Petersburg. Seit seiner Gründung 2011 hat er mehr als 200 Wettbewerbe organisiert. Im Vergleich zu Deutschland, Schweden oder den Niederlanden mag das wenig sein. „Doch für uns ist Sport mehr als Vergnügen“, sagt Agapov. „Sport bietet uns einen Schutzraum.“
Wie schwer es ist, diesen Schutzraum zu verteidigen, merkte er 2014 bei den „Open Games“. Rund 300 Sportler aus Russland, Europa und Nordamerika nahmen an diesem Festival in Moskau teil. Ein Zeichen der Solidarität. Agapov und seine Mitstreiter hatten über Monate nach Hallen und Sponsoren gesucht. Sie verschickten Briefe, sprachen bei Behörden vor, luden bekannte Gesichter ein.
Ein prominenter Gast kam aus den USA: Greg Louganis,