Machtspieler. Ronny Blaschke

Machtspieler - Ronny Blaschke


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und Einkeit“. Landesweit entstanden Klubs mit kommunistischer Symbolik Roter Stern, Partizan oder Proletar, auch Slobodan, auf Deutsch Frieden, oder Napredak, Fortschritt. „Viele Vereine mit eindeutigen ethnischen Hintergründen wurden verboten“, sagt Richard Mills, Autor des Buches „The Politics of Football in Yugoslavia“. „So wollten die Kommunisten Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen früh unterbinden.“

      Doch es gab Ausnahmen wie Hajduk Split, gegründet 1911. Die südkroatische Hafenstadt Split war 1941 von italienischen Truppen besetzt worden. Hajduk weigerte sich, in der italienischen Liga zu spielen, und schloss sich 1944 als Armeeteam den jugoslawischen Partisanen an. Nach dem Krieg wollten die Kommunisten Hajduk als Vorzeigeklub nach Belgrad versetzen, doch der Verein lehnte ab. Nachdem Hajduk die jugoslawische Meisterschaft 1950 gewann, formten Studenten in Split die Fangruppe Torcida. Vor einem Spiel störten sie mit Pfeifen die Nachtruhe des Gästeteams Roter Stern Belgrad. Einige Mitglieder wurden angeklagt, aus Sorge vor kroatischem Nationalismus drängte das Regime Torcida in den Untergrund.

      In den 1950er Jahren verzeichnete die jugoslawische Wirtschaft eine der größten Wachstumsraten der Welt, bis 1960 stieg die Industrieproduktion jährlich um 14 Prozent. Mehr als fünf Millionen Menschen zogen für Arbeit in die Städte, an den Küsten entstand ein Tourismusgewerbe. Die Identifikationsfigur Tito erlaubte bis zu einem gewissen Grad Reisefreiheit und Streiks. „In den Fabriken erhielten Arbeiter mehr Einfluss, und auch die Fußballvereine gestatteten ihren Spielern mehr Entscheidungsfreiheit“, berichtet Richards Mills von der University of East Anglia im englischen Norwich.

      Die multiethnische Nationalmannschaft trug jugoslawische Ideen in die Welt hinaus. Sie gewann bei Olympia zwischen 1948 und 1960 dreimal Silber und einmal Gold, dazu der vierte Platz bei der WM 1962 sowie zwei unterlegende EM-Endspiele 1960 und 1968. Die großen Vereine waren bei internationalen Turnieren gern gesehene Gäste. 1964 bezeichneten 73 Prozent der jugoslawischen Bevölkerung die Beziehungen zwischen den Teilrepubliken als gut.

      Doch der Aufschwung endete in den 1970er Jahren. Arbeitslosigkeit, Staatsschulden und soziale Ungleichheit zwischen den Regionen wuchsen. 1975 war Slowenien siebenmal reicher als der Kosovo. „Die sozialistische Ideologie verlor an konkreter Bedeutung“, schreibt die Südosteuropa-Forscherin Marie-Janine Calic. Immer mehr Menschen wandten sich vom Vielvölkerstaat ab und pflegten ethnische Traditionen mit Trachten, Volksliedern und Denkmälern. Laut Calic führte der Verlust alter Gewissheiten zu einer „Wiedererweckung der Religionen“. Und diese Entwicklungen sollten sich nach dem 4. Mai 1980 rasant beschleunigen: Während des Spiels zwischen Hajduk Split und Roter Stern Belgrad verkündete der Stadionsprecher den Tod Titos.

      Im folgenden Jahrzehnt mündeten die ethnischen Spannungen in Demonstrationen, Ausschreitungen und Gewalt, auch rund um die Fußballklubs. Die jugoslawische Nationalmannschaft gehörte weiter zur europäischen Spitze, gewann bei Olympia 1984 Bronze. Seit ihrer Gründung 1919 stammten die meisten Nationalspieler aus Serbien und Kroatien, doch gerade bei der WM 1990, kurz vor den Zerfallskriegen, verfügte Jugoslawien über eines der ethnisch vielfältigsten Teams seiner Geschichte. Es waren auch fünf Spieler aus Bosnien und Herzegowina dabei, zwei aus Montenegro, zwei aus Mazedonien und einer aus Slowenien. Jugoslawien scheiterte bei der WM in Italien erst im Viertelfinale an Argentinien.

       Schüsse auf Spieler und Fans

      Nationaltrainer war Ivica Osim, geboren und aufgewachsen in Sarajevo, dem politischen und kulturellen Zentrum Bosniens. Der Europawissenschaftler Ivan Korić zitierte Osim in einem Aufsatz für das Fachmagazin „Ost-West. Europäische Perspektiven“ mit folgenden Worten: „Die jugoslawischen Journalisten haben mich fürchterlich kritisiert. Sie wollten immer die Spieler aus ihrer Teilrepublik im Team sehen. Ich habe dadurch mit dem Publikum und mit den Journalisten Probleme bekommen. Aber ich habe meine eigene Linie durchgezogen. Für mich war nie wichtig, aus welcher Republik jemand kommt. Einmal habe ich zu den Journalisten gesagt: ‚Mir ist egal, woher die Spieler kommen. Es werden immer nur die Besten spielen. Und wenn es sein muss, spiele ich auch mit elf Kosovo-Albanern. Sie gehören auch zu uns. Und wenn sie die Besten sind, dann spielen sie auch.‘ Damit hatte ich klargestellt, dass ich mich nicht unter Druck setzen lasse. Aber Jugoslawien war praktisch schon vor der WM in Italien zerstört. Es war ein kaputter Staat.“

      Im Oktober 1991 reiste Ivica Osim mit der jugoslawischen Auswahl zu einem Freundschaftsspiel in seine Heimatstadt Sarajevo, Anlass war der siebzigste Geburtstag seines früheren Vereins, des FK Željeznič ar, zu Deutsch Lokomotive. Zu jener Zeit hatten Slowenien und Kroatien bereits ihre Unabhängigkeit erklärt. In Sarajevo schienen die Menschen noch Hoffnung zu haben: Vor dem Spiel ließen Spieler Friedenstauben steigen. Auf den Tribünen bejubelten 20.000 Zuschauer ihr bereits geschrumpftes Nationalteam. Bosnien und Herzegowina war die einzige jugoslawische Teilrepublik, in der es keine klare Bevölkerungsmehrheit gab. Und das zeigte sich 1991 auch in Sarajevo: Von den 530.000 Einwohnern waren 49 Prozent Muslime, dreißig Prozent Serben, sieben Prozent Kroaten. Keine Gemeinde im Umkreis war ethnisch homogen, gemischte Ehen waren selbstverständlich.

      Nach einem Referendum im März 1992 erklärte sich aber auch die Republik Bosnien und Herzegowina für unabhängig. Die bosnischen Serben wollten das nicht akzeptierten, auf ihren Gebieten schlossen sie sich zur „Serbischen Republik Bosnien und Herzegowina“ zusammen, später Republika Srpska. In jener aufgeladenen Atmosphäre sollte der FK Željeznič ar in Sarajevo den Verein Rad Belgrad empfangen. Am selben Tag besetzten serbische Kräfte der verbliebenden jugoslawischen Armee eine Polizeiakademie in der Nähe des Stadions. Sie schossen willkürlich auf Zivilisten, auch auf das Stadion. Spieler und Fans konnten sich in Sicherheit bringen.

      Serbische Soldaten zogen einen Belagerungsring um Sarajevo, schnell besetzten sie mehr als siebzig Prozent von Bosnien und Herzegowina. Ivica Osim, der das jugoslawische Nationalteam erfolgreich durch die Qualifikation für die EM 1992 führte, hatte länger nichts mehr von seiner Familie gehört. Noch vor dem Ausschluss Jugoslawiens von der EM trat er als Nationaltrainer zurück. „Das ist das Einzige, was ich für diese Stadt tun kann. Damit Sie sich erinnern, dass ich in Sarajevo geboren bin“, sagte Osim auf einer Pressekonferenz.

       Fan will Frau retten und stirbt

      „Der Stadtteil Grbavica rund um das Stadion von Željeznič ar wurde zur Kriegszone“, erzählt der bosnische Journalist Danijal Hadžović, der sich seit zehn Jahren mit Politik und Fußball beschäftigt. „Die Frontlinie verlief quer durch das Viertel.“ Serbische Scharfschützen postierten sich auf umliegenden Hochhäusern und erschossen Menschen, die Wasser und Nahrung besorgen wollten. Die mehrheitlich muslimischen Bosnier, auch Bosniaken genannt, feuerten von der anderen Seite zurück. Ruckelnde Filmaufnahmen zeigen, wie Teile der Stadiontribünen in Flammen aufgehen. Soldaten verschanzten sich hinter dem Vereinsheim, der Rasen glich einem Krater. „Wer sein Haus verließ, riskierte sein Leben“, sagt Danijal Hadžović. „An ein normales Leben mit Freizeit war nicht zu denken.“

      Trotzdem wollten sich einige Jugendliche in Sarajevo ihr Hobby nicht nehmen lassen, erinnert Trainerikone Ivica Osim in einem Interview mit dem österreichischen Magazin Ballesterer: „Die kleinen Kinder konnten höchstens in einer sicheren Halle oder im Haus spielen. Aber wenn sie draußen spielten, passierte es oft, dass sie von oben beschossen wurden. Da gab es viele Tote. Das war das Grausamste, was man sich vorstellen kann. Kinder waren in der Schule und gingen hinaus zum Spielen, und dann wurden sie erschossen.“ Insgesamt wurden im Bosnienkrieg zwischen 1992 und 1995 rund 100.000 Menschen getötet, während der fast vierjährigen Belagerung in Sarajevo waren es mehr als 11.000.

      Noch heute sind im Stadtviertel Grbavica die Spuren des Krieges präsent. Häuserwände mit Einschusslöchern, zersplitterte Fensterscheiben, bröckelnder Putz. Das Stadion des FK Željeznič ar ist hingegen runderneuert, der Klub war 1921 von Eisenbahnern gegründet worden. An der Westtribüne erinnert eine Tafel an die Kriegsopfer, gestiftet von der Ultragruppe Maniacs. Viele Fans verknüpfen ihre Identifikation mit aufwendigen Gedenkaktionen, erläutert der Politikwissenschaftler Alexander Mennicke in seiner Bachelorarbeit. Die Ultras besingen zu jedem Heimspiel ihr geschundenes Viertel und präsentieren in Choreografien mitunter kämpfende Soldaten. Sie versammeln sich an den Jahrestagen des Völkermordes von Srebrenica und organisieren Gedenkturniere für Dževad Begić Dž ilda.


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