Machtspieler. Ronny Blaschke
heute keine Rede mehr sein, kommentiert die Südosteuropa-Forscherin Marie-Janine Calic. Nach dem Dayton-Abkommen 1995 blieb der Staat in seinen Vorkriegsgrenzen erhalten, wurde aber in zwei Teilstaaten getrennt. Die von Muslimen und Kroaten regierte „Föderation Bosnien und Herzegowina“ erhielt 51 Prozent des Territoriums und damit eine symbolische Mehrheit. Der serbisch dominierten Republika Srpska wurden 49 Prozent zugesprochen. Während des Krieges waren in Bosnien und Herzegowina 2,2 Millionen Menschen geflohen oder vertrieben worden. So gibt es heute in den allermeisten Gemeinden Bevölkerungsmehrheiten von über neunzig Prozent. Bosniaken, Serben und Kroaten leben getrennt. In Sarajevo war 1991 die Hällte der Bevölkerung muslimisch, mittlerweile sind es mehr als 80 Prozent.
Die Mutter von Barbarez wird bedroht
Trotzdem möchte Dženan Đipa das Verbindende in der Gesellschaft betonen, nicht das Trennende. Im Fußballverband von Bosnien und Herzegowina ist Đipa für soziale Projekte verantwortlich, für Mädchenturniere, Gesundheitsvorsorge oder die Schulliga. Als Ort für das Interview hat er in Sarajevo ein Café am Rande des altosmanischen Basarviertels vorgeschlagen; in der Nähe befinden sich Moscheen, eine katholische Kathedrale, eine orthodoxe Kirche und eine Synagoge. „Wir sind ein kleines Land“, sagt Đipa. „Wenn wir in Wirtschaft, Kultur oder Fußball erfolgreich sein wollen, dann müssen wir zusammenarbeiten.“ Was er dann aber über die Geschichte des bosnischen Fußballs erzählt, deutet eher darauf hin, dass es nicht viele Idealisten wie ihn gibt.
Die gesellschaftliche Spaltung nach dem Krieg übertrug sich auch auf den Spielbetrieb. Bosniaken, Serben und Kroaten trugen zunächst ihre eigenen Meisterschaften aus, Anfang des Jahrtausends kamen sie nach langen Verhandlungen in einer Proffliga zusammen. Der Aufbau einer Nationalmannschaft wurde von Diskussionen über ethnische Hintergründe überschattet. Sergej Barbarez etwa spielte erfolgreich in der Bundesliga, unter anderem für Borussia Dortmund und den Hamburger SV, doch aus seiner Heimat Bosnien und Herzegowina lehnte er Länderspieleinladungen zunächst ab. Der Grund: Seine kroatischstämmige Mutter wurde in seiner Geburtsstadt Mostar von Nationalisten bedroht. 2007 boykottierten 13 Spieler das bosnische Nationalteam, nach ihrer Einschätzung legte der Fußballverband mehr Wert auf die Nationalitäten der Spieler als auf ihre sportlichen Talente.
Als geografisches Zentrum des westlichen Balkans wurden Bosnien und Herzegowina über Generationen von Bosniaken, Kroaten und Serben beansprucht. Diese Konflikte mündeten in eines der wohl kompliziertesten politischen Systeme weltweit. Um allen Ansprüchen gerecht zu werden, ist das Land in 14 Teilgebiete gegliedert, mit 14 regionalen Regierungen und 14 Parlamenten. Dem obersten Staatspräsidium gehören ein bosniakischer, ein kroatischer und ein serbischer Vertreter an, alle acht Monate wechselt der Vorsitz. Die Kosten für diesen Apparat werden jährlich auf 6,5 Milliarden Euro geschätzt. Das Bruttoinlandsprodukt betrug 2017 aber gerade mal 16,5 Milliarden Euro, die Arbeitslosenquote lag bei 28 Prozent.
Nach Regeln der UEFA darf der bosnisch-herzegowinische Fußballverband nur einen Präsidenten haben. In seinem Vorstand sitzen Bosniaken, Kroaten und Serben mit jeweils fünf Vertretern. Ob es Spannungen gibt? Verbandsmitarbeiter Dženan Đipa möchte keine Interna preisgeben. Nur so viel: Das Nationalteam bestreitet Heimspiele in Zenica oder Sarajevo, in Städten mit muslimischer Mehrheit. Ein Auftritt in Banja Luka, der Hauptstadt der serbisch geprägten Republika Srpska, scheint vorerst unrealistisch zu sein. „Wir sollten uns mehr um die Jugend kümmern, die mit dem Krieg nichts zu tun hat“, sagt Dženan Đipa und zeigt auf seinem Handy Fotos von gelungenen Sportfesten. „Der Fußball kann den Zusammenhalt fördern, Religion spielt auf dem Rasen keine Rolle.“ Đipa reist mit seinen Projekten quer durchs Land. Es sind weniger die Kinder, auf die er behutsam einreden muss, sondern eher deren Eltern. Dabei kann die Stimmung zwischen den Städten sehr unterschiedlich sein.
Manchmal verläuft die Konfliktlinie auch quer durch eine Stadt, zum Beispiel in Mostar in der Herzegowina, einer Region im Südwesten des Landes, nicht weit von der Grenze zu Kroatien entfernt. Mostar veranschaulicht die Komplexität des Bosnienkrieges: Zunächst kämpften dort Muslime und Kroaten gemeinsam gegen Serben. Bald wünschten sich kroatische Nationalisten den Anschluss der Herzegowina an ihren „kroatischen Mutterstaat“. Kroaten wandten sich gegen ihre Verbündeten. In stundenlangem Beschuss zerstörten sie auch das Wahrzeichen von Mostar, die Stari Most, eine Bogenbrücke aus dem 16. Jahrhundert. Nach dem Krieg verfestigte sich die ethnische Trennung der Stadt: In der westlichen Hälfte leben fast ausschließlich katholische Kroaten, in der östlichen muslimische Bosniaken.
Das Wahrzeichen, die Stari Most, wurde erneuert und 2004 wiedereröffnet, seitdem wachsen die Tourismuszahlen stetig. „Für unsere Gäste ist die Segregation in der Stadt nicht wirklich sichtbar, es gibt keine Mauern, alle können sich frei bewegen“, sagt Esmer Meškić, aufgewachsen im östlichen Teil. Während des Krieges gehörte sein Vater einer bosniakischen Einheit an. Mit seiner Mutter und seinen Großeltern wurde er als Kleinkind für einige Wochen in einem kroatischen Lager interniert. Nach dem Krieg ging er in eine Klasse mit ausschließlich muslimischen Schülern. Mit 16 schloss er sich den Ultras von Velež Mostar an. Der 1922 gegründete Arbeiterklub, benannt nach einem Hügel, war über Jahrzehnte ein Sinnbild der multiethnischen Stadtgesellschaft gewesen und wurde vom jugoslawischen Präsidenten Tito gewürdigt, noch heute gehört der Rote Stern zum Vereinswappen. „Vor dem Krieg lebten die Fans von Velež im gesamten Stadtgebiet, das ist jetzt nicht mehr so“, erzählt Esmer Meškić. „Als junger Ultra habe ich genau überlegt, wann ich in die westliche Stadthälfte gehe. Einige Straßen und Bars habe ich gemieden.“ Es werde langsam besser, fügt er hinzu, aber von einem entspannten Zusammenleben könne noch keine Rede sein.
Fast zwanzig Jahre hatte Velež Mostar seine Heimspiele auf der Westseite im Stadion Bijeli Brijeg ausgetragen, übersetzt Weißer Hügel. Doch mit der Auflösung Jugoslawiens verlor Velež seine Heimstätte 1992 an HŠK Zrinjski Mostar. Der Klub mit kroatischen Wurzeln war 1905 gegründet und 1945 von den Kommunisten verboten worden, wegen seiner nationalen Symbolik und seinen Verbindungen zur faschistischen Ustascha. Nach der Neugründung gewann Zrinjski sechsmal die Meisterschaft in Bosnien und Herzegowina. Viele Ultras würden ihren Verein jedoch lieber in einer vergrößerten kroatischen Liga anfeuern. Die Straßen rund um Bijeli Brijeg im Westteil Mostars sind mit ihren Graffitis markiert, darunter martialische Motive, Hakenkreuze und Symbole der Ustascha. „Fans von Zrinjski haben die Zerstörung unserer historischen Brücke gefeiert“, sagt Esmer Meškić. „Für uns ist das eine große Provokation.“
Klub der Katholiken
Doch die Feindseligkeiten können noch schlimmere Folgen haben, wie Alexander Mennicke in seiner Bachelorarbeit über nationale Identität im bosnischen Fußball herausgearbeitet hat. Der Politikwissenschaftler rückt darin die Kleinstadt Široki Brijeg in den Fokus, zwanzig Kilometer westlich von Mostar gelegen und fast ausschließlich von Kroaten bewohnt. „Man fühlt sich der kroatischen Nation zugehörig und propagiert die kroatische Republik auf bosnischem Boden – Herceg-Bosna, ein Begriff, der seit Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder auftauchte“, schreibt Mennicke und meint damit auch den lokalen Fußball-Erstligisten NK Široki Brijeg. „Das Besondere ist, dass es nur Katholiken erlaubt ist, im Verein Fußball zu spielen.“ In einer Choreografie erinnerten die Ultras aus Široki Brijeg an die „Operation Sturm“, in der kroatische Einheiten 1995 serbische Truppen vertrieben hatten. In einer anderen präsentierten sie dem Europapokalgegner Beşiktaş Istanbul einen Kreuzritter mit dem Schriftzug: „Bollwerk der Christenheit.“
Häufig eskalierte die Lage, wenn Široki Brijeg auf Klubs mit überwiegend muslimischen Anhängern traf, so auch am 4. Oktober 2009 beim Heimspiel gegen den FK Sarajevo. Ultras warfen Steine und prügelten sich. Im Chaos ergriff ein Kroate mutmaßlich die Waffe eines Polizisten und erschoss Vedran Puljić , einen Fan des FK Sarajevo. Der Täter wurde festgenommen, konnte aber Stunden später fliehen und sich nach Zagreb absetzen, wo er keine Auslieferung zu fürchten hat. „Die verwundeten Fans aus Sarajevo sind zu uns nach Mostar gekommen“, sagt Esmer Meškić, Anhänger von Velež Mostar. „Wir haben ihnen Schlafplätze und Essen angeboten, das hat unsere Verbindungen gestärkt.“ Bis heute ist der Tod von Vedran Puljić nicht genau aufgeklärt.
Esmer Meškić schildert seine Erinnerungen in Mostar in einem Café nahe der erneuerten Bogenbrücke,