Machtspieler. Ronny Blaschke

Machtspieler - Ronny Blaschke


Скачать книгу
doch sie verließen das Festival aus Termingründen vorzeitig. Kurz darauf ließ die Polizei die Sporthalle räumen, angeblich wegen Terrorgefahr. Andere Sportstätten und Hotels zogen ihre Unterstützung zurück und begründeten dies mit Überbuchungen, Stromausfällen, Klempnerproblemen. In einer Halle zündeten Vermummte eine Rauchbombe. Seitdem bucht Alexander Agapov für größere Veranstaltungen einen Sicherheitsdienst. Ein Wintersportfest nahe St. Petersburg wurde durch einen Fluss begrenzt, auf der anderen Seite durch dicht geparkte Autos.

      Ganz anders waren die Bedingungen im Sommer 2018. Das konnte man in einem Szenequartier im Zentrum von St. Petersburg beobachten. In einem Hinterhof, umgeben von Cafés und Galerien, lud das „Diversity House“ während der WM zu Diskussionen, Ausstellungen und alternativen Stadttouren ein. Ihr Motto: „Cup For People“. Ursprünglich war für diesen Begegnungsort der Name „Pride House“ vorgesehen, doch das hätten die Behörden wegen des Bezuges zur LGBT-Bewegung als Provokation empfunden. Und eigentlich war das „Diversity House“ an einer anderen Adresse geplant, näher an der offiziellen Fanmeile, doch der Vermieter kündigte kurzfristig den Vertrag. So kamen während der WM kaum Touristen und internationale Journalisten ins „Diversity House“.

      Olga Polyakova, eine der Organisatorinnen, ist jedenfalls froh, dass die Veranstaltungen ohne Störungen und Attacken abgelaufen sind: „Für die Zivilgesellschaft war die WM eine seltene Gelegenheit, um sich zu vernetzen. Wir haben keine große Institution hinter uns. Wir sind auf kleine und mittelgroße Partner angewiesen.“ Auch andere Gruppen außerhalb des Fußballs erlebten im Juni und Juli 2018 eine relativ entspannte Zeit. Eine Geburtstagsfeier zugunsten des lange inhaftierten ukrainischen Regisseurs Oleg Senzow wurde zwar von Polizisten beobachtet, aber nicht aufgelöst. „Uns bereitet vor allem die staatliche Willkür Sorge“, sagt Olga Polyakova. „Niemand weiß, was man sagen darf und was nicht. Alles wird bewusst im Unklaren gelassen.“

      Die Gelassenheit der Behörden war allerdings nur wegen ihrer jahrelangen Vorbereitungen möglich. Schon während des Konföderationen-Pokals 2017 wurde die Versammlungsfreiheit weitgehend aufgehoben, so war es auch vor und während der WM. Großproteste waren unmöglich. Das Innenministerium wies die Polizei an, Nachrichten über Verbrechen, Razzien und Ermittlungen während der WM zurückzufahren. Auch die Regionen sollten vorwiegend über Positives berichten. Olga Polyakova und einige ihrer liberalen Freunde hatten überlegt, während des Turniers die Stadt zu verlassen. Sie ist geblieben und hofft nun, dass sie 2020 an das „Diversity House“ anknüpfen kann. St. Petersburg gehört zu den zwölf Austragungsorten der EM, die erstmals quer über den Kontinent stattfinden soll.

      Damit zeigt die russische Regierung einmal mehr, dass sie mit Spitzensport eine langlangfristige Strategie verfolgt. Während ihrer „Dekade des Sports“ fanden Dutzende internationale Ereignisse in Russland statt: die Olympischen und Paralympischen Winterspiele 2014 in Sotschi, auch die Weltmeisterschaften im Biathlon 2011 in Chanty-Mansijsk, in der Leichtathletik 2013 in Moskau, im Schwimmen 2015 in Kasan oder im Eishockey 2016 in Moskau und St. Petersburg. Die Formel 1 ist seit 2014 jährlich in Sotschi zu Gast. Nach Ansicht von Johannes Aumüller, einem sportpolitischen Experten der Süddeutschen Zeitung, kann sich Wladimir Putin gerade im Sport als weltoffener und zupackender Staatsmann in Szene setzen. Und das in einer Zeit, in der russische Einheiten 2014 die Krim annektieren und in die Ostukraine vordringen, während sie im syrischen Bürgerkrieg an der Seite des Präsidenten Baschar al-Assad kämpfen oder sich in die US-Präsidentenwahl 2016 einmischen.

       Selbstvertrauen durch Sport

      Doch auch im russischen Fußball gibt es mehrere Ebenen, Interessen und Abhängigkeiten, die sich manchmal direkt gegenüberstehen. Die meisten Aktivisten haben mit den Glitzerereignissen wenig zu tun, davon kann Sorina berichten. Wenn es in dem kleinen Gemeindezentrum am Stadtrand von Moskau an der Tür klingelt, schreckt sie für einem Moment hoch. Sie geht zur Freisprechanlage, blickt auf den Bildschirm und ist erleichtert. Es sind keine wütenden Nachbarn, keine Beamten, keine Neonazis, es ist ein bekanntes Gesicht. Sie öffnet ihrem Kollegen die schwere Eisentür, als wäre sie die Sicherheitskraft einer Bank. Dann setzt sie sich für das Interview wieder an den Tisch. Es geht um Homosexualität, um starke Frauen im Fußball. Um Themen, für die in Russland eine gewisse Vorsicht nicht falsch ist.

      Sorina ist in Tomsk aufgewachsen, im westlichen Teil Sibiriens. Ihren Nachnamen möchte sie nicht nennen, auch nicht für einen Journalisten aus Deutschland. Sie wägt jedes Wort ab, ihre mittellangen Haare hat sie zu einem Zopf gebunden. Als sie 14 war, blätterte ihre Mutter in ihrem Tagebuch. Und fand heraus, dass sie lesbisch ist, seitdem ist das Verhältnis angespannt. Sorina studierte Architektur und baute mit Kommilitoninnen ein Fußballteam auf. Sie nannten es „1604“, nach dem Gründungsdatum ihrer Stadt.

      Der Fußball war neu für die Frauen, sie genossen die Bewegung, das Gerangel vor dem Tor. Es stärkte ihr Gefühl auszubrechen, wenigstens für ein paar Stunden. Sie halfen sich bei der Jobsuche und beim Studium. Sorina zog nach Moskau und ging zur „LGBT Russian Sport Federation“. Wieder formierte sie ein Team, suchte nach Plätzen und Geldgebern. Sie wollte andere motivieren. Das Selbstvertrauen im Sport übertrugen sie auf ihre in Arbeit und Familie.

      Sorina und ihr Team gehören zu der Generation, die sich an ein Leben ohne Wladimir Putin kaum erinnern kann. Aber sie weiß aus Büchern und Erzählungen, dass es um die Lage der Frauen auch schon weit vor Putins Amtszeit nicht allzu schlecht bestellt war: Im März 1917 hatten demonstrierende Frauen den Sturz des Zaren befördert. Russland führte 1917 als erstes Land das Wahlrecht für Frauen ein und das Recht auf Abtreibung. Danach ging es rauf und runter, berichtet Ekaterina Kochergina vom Lewada-Zentrum, dem einzigen unabhängigen Meinungsforschungsinstitut in Russland. Frauen kämpften im Zweiten Weltkrieg mit an vorderster Front. 1972 wurde in Dnepropetrowsk ein Turnier nach Walentina Tereschkowa benannt. Die frühere Näherin war die erste Frau im Weltraum, eine Heldin der UdSSR. Die Sowjetunion schränkte Bürgerrechte massiv ein, Frauen aber wurden weniger benachteiligt als anderswo. Ekaterina Kochergina: „Heute sind die historischen Wurzeln des Fortschritts kaum noch wahrnehmbar.“

      Auf einem Konferenztisch breitet die Forscherin Tabellen und Diagramme aus. „Frauen gehören in die Familie, denken heute viele. Dieses Frauenbild ist politisch verordnet.“ Weltmachtstreben und Nationalismus sind unter Putin seit der Annexion der Krim 2014 gewachsen. Das Riesenland mit seinen rund 100 Volksgruppen sucht eine übergreifende Identität, zumal der Sieg im Zweiten Weltkrieg weiter verblasst. Bis 2050 könnte die Einwohnerzahl von 143 Millionen um zwanzig Millionen sinken. Finanzielle Sorgen werden oft mit Ablehnung kompensiert, vor allem gegen Einwanderer aus dem Kaukasus und Zentralasien. Auch gegen Homosexuelle, denn die können keine Kinder gebären, sagt Ekaterina Kochergina: „Auch für Frauen wächst der Druck. Doch die Geburtenrate bei uns ist nicht wesentlich geringer als in anderen Industrienationen.“ Der Unterschied ist, dass die Lebenserwartung der russischen Männer niedriger ist, sie sterben im Schnitt mit 64 Jahren. So werden Frust und Vorurteile auf Minderheiten abgeladen. Homophobie und Sexismus gehen oft einher.

       Nazi-Banner, SS-Runen, Affengeräusche

      Es hätte alles auch ganz anders kommen können. Nach dem Zerfall der Sowjetunion war die Hoffnung groß auf eine wachsende gesellschaftliche Teilhabe. „Russland hatte eine blühende Szene Anfang der 2000er Jahre“, erzählt Pavel Klymenko, der aus Kiew stammt und jugendliche Subkulturen in Osteuropa erforscht. Seit 2013 arbeitet er für das internationale Antirassismus-Netzwerk Fare, Football Against Racism in Europe. Schulen starteten Wettbewerbe, Studierende gründeten Bündnisse, es entstanden Tausende Vereine, Nachbarschaftshilfen, Umweltgruppen. Immer mehr Menschen übernahmen Verantwortung für ihr Gemeinwesen.

      Der Staat jedoch schränkte die Meinungs- und Pressefreiheit zunehmend ein. Unternehmer, die dem Kreml nahestehen, übernahmen Medien und änderten deren Ausrichtung. Blogger, die täglich mehr als 3.000 Menschen erreichen, müssen sich als Medien registrieren lassen. Nach zwei Verwarnungen kann die Aufsichtsbehörde deren Schließung beantragen. Der ausländische Kapitalanteil an Medienunternehmen wurde auf zwanzig Prozent begrenzt. Und die Weiterverbreitung von 4.000 angeblich „extremistischen Inhalten“ kann Strafen nach sich ziehen.

      Viele Aktivisten hatten auf einen Rückgang der Repression gehofft, als die Olympischen Winterspiele


Скачать книгу