Machtspieler. Ronny Blaschke
Die kroatischen Zuschauer pfiffen die jugoslawische Hymne nieder. Drei Monate später stürmten Fans des südkroatischen Klubs Hajduk Split beim Heimspiel gegen Partizan Belgrad den Rasen und verbrannten eine jugoslawische Fahne.
Als zweite Teilrepublik nach Slowenien erklärte Kroatien im Juni 1991 seine Unabhängigkeit von Jugoslawien. Die von Serbien dominierte jugoslawische Volksarmee ging mit paramilitärischer Unterstützung dagegen vor, es folgten vier Jahre Krieg zwischen Kroaten und Serben. In dieser Zeit prägte das Gefolge von Franjo Tuđman die nostalgische Haltung, dass es um die kroatische Kultur vor dem sozialistischen Jugoslawien besser bestellt gewesen sei. Zwischen 1941 und 1945 war im „Unabhängigen Staat Kroatien“ die faschistische Ustascha-Bewegung an der Macht gewesen, unter Duldung der Nationalsozialisten. Die Ustascha strebte ein ethnisch homogenes Großkroatien an. Sie verbot serbische Vereine, löste gemischte Ehen auf und verdrängte das serbisch-kyrillische Alphabet aus dem öffentlichen Leben. Ihrer Vernichtungspolitik fielen eine halbe Million Serben, Juden und Roma zum Opfer.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die kroatische Unabhängigkeitsbewegung in Jugoslawien unterdrückt. Aus dem Exil heraus rief sie zu Protesten gegen das kommunistische Regime auf. Viele Nationalisten in den 1990er Jahren verknüpften ihren Widerstand gegen Belgrad mit der „Standhaftigkeit“ der Ustascha. Franjo Tuđman verharmloste deren Mordaktionen. Lange verbotene Symbole kamen wieder in Mode, etwa das rotweiße Schachbrettmuster im kroatischen Wappen, das seinen Ursprung zwar im 15. Jahrhundert haben soll, aber vor allem von der Ustascha gepflegt wurde. Straßennamen wurden der kroatischen Freiheitsbewegung gewidmet.
Kroatien zog seine Fußballvereine aus der jugoslawischen Liga zurück und baute ein eigenes Nationalteam auf. Als Zeichen gegen die kommunistische Vergangenheit ließ der autoritär regierende Franjo Tuđman den Zagreber Verein Dinamo in Croatia umbenennen. Auf einer Rede vor Fans sagte er: „Wer für Dinamo singt, ist ein Agent aus Belgrad.“ Erst nach seinem Tod sollte die Namensänderung rückgängig gemacht werden. Während Anfang der 1990er Jahre kroatische Streitkräfte gegen serbische Truppen kämpften, etablierte sich der Sport als Stütze für eine nationale Identität in Kroatien, analysiert der Forscher Dario Brentin und nennt Leitfiguren jener Zeit: den NBA-Basketballer Dražen Petrović, den Tennisspieler Goran Ivanišević, den Handballer Ivano Balić.
Nach der Zurückdrängung der jugoslawischen Armee und dem Dayton-Abkommen 1995 begünstigte der wachsende Nationalismus die Verharmlosung des Faschismus. Davor Šuker, damals Stürmer bei Real Madrid und seit 2012 Präsident des kroatischen Fußballverbandes, posierte 1996 vor dem Grab von Ante Pavelić, einst Anführer der Ustascha. 1998 bei der WM mischte sich in den Jubel über den dritten Platz des kroatischen Teams bei vielen Fans auch Feindseligkeit gegen Serbien. Franjo Tuđman ließ sich in Frankreich mehrfach mit den Spielern filmen und fotografieren.
Linke Aktivisiten stehen ziemlich allein
Und wie ist das gesellschaftliche Klima mehr als zwanzig Jahre später? Ein Samstagnachmittag am östlichen Rand von Zagreb. Im holzgetäfelten Vereinsheim des NK Čulinec wird bei Suppe und Bier über den großen Fußball diskutiert, daneben findet zwischen Einfamilienhäusern der kleine Fußball statt. Zu Gast ist der selbst verwaltete Amateurklub NK Zagreb 041. Dessen Mitglieder hatten sich im Umfeld des Profiklubs NK Zagreb kennengelernt, in ihrer Ultra-Gruppe „White Angels“ positionierten sie sich mit Bannern, Gesängen und Konzerten gegen Diskriminierung. Sie wurden angefeindet, standen in Konflikt mit dem Präsidium – irgendwann hatten sie genug und gründeten 2014 ihren eigenen Verein.
Einer der treibenden Kräfte unter den 150 Mitgliedern bei Zagreb 041 ist Filip. Er steht mit seinen Freunden hinter der Trainerbank und spornt die Spieler an. Immer wieder dreht er sich um und blickt auf die umliegenden Häuser, Büsche und Autos. „Wir bleiben in der Gruppe und achten darauf, wenn Leute auftauchen, die wir nicht kennen“, erzählt Filip. „Wir wurden mehrfach angegriffen, seitdem kommen meine Frau und mein Kind eher selten zu den Spielen.“ Einmal gingen vermummte Hooligans der Bad Blue Boys mit Schlagstöcken und Pfefferspray auf sie los, ein anderes Mal provozierten sie mit einem Transparent: „Refugees not Welcome“. Zagreb 041 setzt sich seit Langem für Flüchtlinge ein.
Die Familie von Filip stammt aus Dalmatien, aus dem Süden von Kroatien, daher blickt er aus der Ferne auch mit Interesse auf Hajduk Split, den zweiten großen Klubs des Landes. Auf seinem Handy zeigt Filip Videos von Choreografien und Gesängen. Häufig greift Torcida, die größte Fangruppe bei Hajduk, historische Ereignisse auf, meist rund um den 5. August, den „Tag des Sieges“. Anfang August 1995 hatten kroatische Einheiten besetzte Gebiete der Serben zurückerobert. Im August 2019 stellte Torcida in einer aufwendigen Choreografie die Zerstörung eines serbischen Panzers dar, begleitet von Rauchschwaden und tobendem Applaus im Stadion. Auch andere Gruppen präsentieren in ihren Kurven Wappen und Fahnen von Milizen, die gegen Serben gekämpft hatten.
Im Sammelband „Zurück am Tatort Stadion“ erläutert der Soziologe Holger Raschke anhand zahlreicher Beispiele, wie der Fußball in Kroatien Öffentlichkeit für politische Inhalte herstellt: Im April 2011 wurde der kroatische General Ante Gotovina für Kriegsverbrechen gegen Serben am Internationalen Strafgerichtshof zu einer Haft von 24 Jahren verurteilt. Wenige Tage später trugen Spieler bei einer Erstligapartie zwischen HNK Šibenik und NK Zadar T-Shirts mit dem Konterfei Gotovinas. 2012 wurde Gotovina in der Berufung freigesprochen, die Gruppe Torcida feierte das in Split mit einer großen Choreografie. 2013 dann, nach dem EU-Beitritt Kroatiens, forderte ein Minderheitengesetz in Vukovar die zusätzliche Beschriftung der Amtsschilder in Serbisch-Kyrillisch. Die Mannschaft von Hajduk Split lief mit einem Transparent auf den Rasen: „Für ein kroatisches Vukovar.“
„Auf dem Balkan gibt es keine differenzierte Aufarbeitung der Jugoslawienkriege“, sagt der Zagreber Kolumnist und Blogger Juraj Vrdoljak, der seit mehr als zehn Jahren über gesellschaftliche Hintergründe im Sport berichtet. „In Kroatien wird die Erinnerung an die Ustascha-Verbrechen meist verweigert.“ Graffitis von Hakenkreuzen und Ustascha-Symbolen prangen mit Fußballbezug an Häuserwänden, Brücken und sogar Schulgebäuden, mitunter in Verbindung mit katholischen Motiven wie der Flagge des Vatikans. „Die historischen Hintergründe für den Nationalismus werden in der Gesellschaft nicht ausreichend thematisiert“, findet Vrdoljak. „Und prominente Beispiele tragen zur Normalisierung bei.“
Nach der Qualifikation des kroatischen Teams für die WM 2014 intonierte der Verteidiger Josip Šimunić in Zagreb mit den Fans den Ustascha-Gruß „Za dom spremni“, für die Heimat bereit. Viele Medien kritisierten Šimunić – etliche Fangruppen solidarisierten sich mit ihm. Überschaubar war das Problembewusstsein auch 2018: Die kroatische Auswahl belegte bei der WM in Russland Platz zwei, bei der Willkommensfeier in Zagreb war im offenen Mannschaftsbus auch Marko Perković dabei, Gründer von Thompson. Die Rechtsrockband ist bei vielen Fans und Spielern seit Jahren beliebt, in einigen Ländern Europas erhielt sie hingegen Auftrittsverbot.
Jugoslawiens Geschichte spiegelt sich im Fußball
Kroaten und Serben: das Spannungsverhältnis ist jahrhundertealt und prägte gerade im 20. Jahrhundert unterschiedliche politische Systeme. Zwischen den beiden Weltkriegen übernahmen Serben eine bevorzugte Stellung im neuen Königreich Jugoslawien, schreibt die Südosteuropa-Expertin Marie-Janine Calic von der LMU München in ihrem Buch „Geschichte Jugoslawiens“. Unter den 656 Ministern der kurzlebigen Regierungen waren 452 Serben und 137 Kroaten. Das erste Fußballnationalteam Jugoslawiens wurde dagegen 1919 in Zagreb gegründet, die meisten Spieler hatten kroatische Wurzeln. „Der Fußball verdeutlichte einen politischen Grundsatzstreit“, erklärt der britische Historiker Richard Mills. „Einige Funktionäre forderten eine Zentralisierung in Belgrad, andere wollten mehr Autonomie für die Regionen.“ 1929 wurde der Fußballverband nach Belgrad verlegt. Daraufhin boykottierten kroatische Spieler das jugoslawische Nationalteam, weshalb bei der ersten WM 1930 in Uruguay fast ausschließlich Serben zum Einsatz kamen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte der Partisanenkämpfer Josip Broz, genannt Tito, einen kommunistischen Einparteienstaat, laut Grundgesetz eine „Gemeinschaft gleichberechtigter Völker“. Jeder Mensch war Bürger Jugoslawiens und einer Teilrepublik. Tito ließ Kritiker aus dem Weg räumen und belegte Intellektuelle mit Berufsverbot, doch er ging dabei nicht so