Der Meermann. Niels Brunse
Schlamm heraus. Die Schuhe sahen schlimm aus, aber sie waren trocken; sie hatten sich sogar geweitet, weil ich so lange in ihnen gelaufen war, als sie noch feucht waren. Nun drückten sie endlich nicht mehr.
Als ich herunterkam, war die Wirtsstube leer. Da ich keine Lust hatte zu warten, machte ich mich einfach auf den Weg. Schließlich schuldete ich niemandem etwas und besaß lediglich, was ich am Körper trug und in den Taschen hatte: drei Paar Strümpfe und das klimpernde Kleingeld, das der Wirt mir für das Hemd des Pastors gegeben hatte. Geld in der Tasche, ein fast vergessenes Gefühl. Ich war guten Muts.
Ich weiß nicht, wie lange ich gelaufen bin und ich weiß auch nicht mehr, wie die Lichtverhältnisse waren, ich erinnere mich nur an das überwältigende Gefühl, als ich von einer Anhöhe der Straße das massive viereckige Gebäude mit den kleinen Ecktürmen erblickte, das ich sofort wiedererkannte. Der Tower, the Tower of London! Es war das erste Mal, dass ich in diesem fremden England etwas sah, das mir nicht unbekannt war. Den Tower hatte ich mit meinen Eltern besucht, ich war einmal allein dort gewesen und dann zusammen mit Christine auf einer Spritztour übers Wochenende. Oder richtiger, ich würde den Tower in dreieinhalb Jahrhunderten besuchen … oder wollte ich?
Es war eine sonderbare Mischung aus Wiedersehensfreude und Beunruhigung, die mich in diesem Augenblick erfasste. Es war nicht dieser bezaubernde, für die Touristen restaurierte Tower, den ich vor mir sah; das Gebäude sah eher heruntergekommen und düster aus, aber er war es unverkennbar. Ein Halt – und eine schwindelnde Fallgrube, denn gerade durch ihre Bekanntheit ließ die Burg mich bis ins Mark begreifen, womit ich eigentlich konfrontiert war.
Ich hatte London erreicht. Freitag, den 11. Oktober 1647.
8
Jetzt wird es dunkel. Thurloe ist nicht da gewesen. Vielleicht ist heute Sonntag, obwohl es meiner Ansicht nach Sonnabend sein müsste. Allmählich fange ich an, das Zeitgefühl zu verlieren. Ich habe den Wachsoldaten gefragt, der mir mein Essen brachte, aber er hat nicht geantwortet, er hat einfach an mir vorbei gesehen. So lauten wohl ihre Befehle. Nicht mit dem Gefangenen sprechen.
Ich habe Stunden damit verbracht, mir meine letzten Tage bei Pastor Strongworth und meine erste Zeit in London ins Gedächtnis zu rufen – es reicht ja, wenn ich Thurloe beim nächsten Mal davon erzähle. Bei dieser Erinnerungsarbeit taucht allerdings auch alles mögliche andere auf. Ein Segel draußen auf der Themse ließ mich plötzlich an die Fidelio denken, an den Druck der Ruderpinne in der Hand, an das sanfte Gefühl, wenn man bei einer leichten Brise vor dem Wind segelt und den Eindruck hat, als wäre es windstill, weil Boot und Wind die gleiche Geschwindigkeit haben … Der Name war mir als geschickte Lösung für das ewige Problem eingefallen, welches Geschlecht ein Boot hat: Fidelio, ein Männername, der auch das Weibliche abdeckt. Fidelio, ein Opernklassiker. Studienrat Nielsen spielte sie uns im Gymnasium vor, mit langen Erläuterungen und flatternden Armen, vor lauter Enthusiasmus spritzte ihm die Spucke aus dem Mund. Er war von Beethoven besessen.
Und jetzt sollte es noch anderthalb Jahrhunderte dauern, bis Beethoven seine Oper schreibt. Und noch länger bis zu den meisten Dingen, die meinen Alltag bestimmten, bevor ich hierherkam. Radio. Computer. Telefon. Selbst wenn die Wache mit mir reden dürfte, würde er nichts von all diesen Dingen verstehen.
Es gab nur einen einzigen Menschen, der es verstand …
Womit hatte ich begonnen? Es ist dunkel. Zeit zu schlafen. Wenn ich kann.
9
Wenn ich an jenen Herbst und Winter in London denke, sehe ich den Innenraum des Strawberry vor mir. Einige wenige Bohlentische mit blank gescheuerten Bänken, hoch angebrachte Fenster, die nicht sehr viel Licht einließen, an der Längswand ein Kamin, Kannen und Krüge, die ganz hinten im Lokal an Haken hingen, Bierfässer. Das Schild über der Tür zeigte nicht viel mehr als einen roten Klecks umgeben von ein paar grünen Blättern, einige Stammgäste sprachen von dem Schild und dem Wirtshaus als Mother Swottle’s Nose, wobei sie auf die Inhaberin anspielten, die das Lokal mit harter Hand leitete. In der Tat zeichnete sich ihre Nase dadurch aus, dass sie etwas mehr gerötet war als der Rest ihres Gesichts, doch im Übrigen war es insbesondere Mutter Swottles Statur, die sofort ins Auge fiel.
Sie war eine stattliche Frau, beinahe ebenso breit wie hoch. Wie ein Spinnaker beulte sich ihre Schürze über dem gewaltigen Bauch und den enormen Hüften, ihr Mieder hatte sie über einem Paar melonengroßer Brüste verschnürt und aus den aufgekrempelten Ärmeln ragten ihre Unterarme wie zwei weiße Schinken. Immer hingen ein paar verschwitzte Haarsträhnen unter ihrem Kopftuch hervor und ihre Augen saßen so tief zwischen den Fettpolstern, dass man normalerweise nicht sehen konnte, welche Farbe sie hatten. Ihre Hände waren groß und schrundig, aber dennoch so pummelig wie bei einem Kind. Doch die Wucht, die in diesen Fäusten steckte, war Respekt einflößend. Ich habe mal mit angesehen, wie sie einen aufsässigen Betrunkenen zu Boden geschlagen hat, der das Wirtshaus nicht verlassen wollte, als sie es von ihm verlangte. Keinerlei Umstände, nur eine klare Rechte aufs Kinn und bei dem Burschen ging das Licht aus. Seine Kameraden mussten ihn raustragen.
Henry Swottle, ihr Mann und eigentlicher Inhaber des Lokals, war einen Kopf kleiner als sie, ausgemergelt, trocken und zerrupft wie ein abgepulter Tannenzapfen. Gewöhnlich saß er am hintersten Tisch und rauchte Pfeife – an diesem Tisch herrschte ein ständiges Kommen und Gehen von Gästen, man tauschte Gerüchte und Klatsch aus, und wenn es etwas besonders Interessantes zu hören gab, rief Swottle seine Frau dazu, immer mit denselben Worten: »Bessie, komm und küss mich!« Und sie gab ihm einen kleinen Schmatz auf die Wange, der ihn zum Lächeln brachte. Dann wurde erzählt. Eine besondere Attraktion war es, Mutter Swottle zum Lachen zu bringen. Erzählte ein Gast etwas Komisches, brach sie in ein verblüffendes Jungmädchenlachen aus, klar und deutlich und in einer Lautstärke, die die Tabaksschwaden zum Beben brachte. Ihr Lachen war derart ansteckend, dass das ganze Wirtshaus mitlachte, ohne zu wissen, worum es bei dem Spaß eigentlich ging.
Es war an einem der ersten Tage nach meiner Ankunft in London, als mir die imponierende Bessie Swottle und ein junger Mann mit hellen Locken vor dem Wirtshaus auffielen. Ich hatte die Brücke überquert, war um ein paar Ecken in Southwark gebogen und blieb unwillkürlich stehen beim Anblick dieser gewaltigen Frau und des lockigen Jünglings, die gerade Bierfässer von einem Brauereiwagen luden. Das Hemd des Mannes war schweißnass und klebte an ihm, man sah, dass er einen Oberkörper wie ein griechischer Gott hatte. Mutter Swottle war zweifellos sein exaktes Gegenteil. Es dauerte nicht lange, bis sie entdeckte, dass ich sie beobachtete. »Was glotzt du denn so?«, schrie sie mir zu. »Hilf ihm lieber. Das hier ist keine Frauenarbeit.« Dann ging sie mit dröhnenden Schritten ins Wirtshaus und der junge Mann schaute mich mit hellbraunen Hundeaugen Hilfe suchend an.
Ich half ihm. Er reichte mir die schweren Fässer von der Ladefläche, ich nahm sie entgegen und stellte sie senkrecht auf das schmutzige Pflaster. Als wir fünfzehn, sechzehn Fässer abgeladen hatten, schnürte er ein Seil um die restlichen Fässer auf dem Wagen und sprang herunter; und der Kutscher, der die ganze Zeit teilnahmslos und zusammengesunken auf dem Bock gesessen hatte, weckte die ebenso apathischen Pferde mit einem Schlag auf die Zügel und rumpelte weiter zu der nächsten Kneipe. Der junge Mann fing an, die Fässer ins Strawberry zu rollen, und ich tat es ihm nach. Als wir sie an der Rückwand aufgestapelt hatten, bekam ich wie erhofft eine kleine Mahlzeit und einen Krug Bier für meine Mühe. Wir saßen am hintersten Tisch – Swottle war nicht da, ihn lernte ich erst später kennen – und Bessie stellte Hering, Schnittlauch und Bier auf den Tisch und fragte nach meinem Namen. John, antwortete ich nur. »Und das ist Mop«, sagte sie und tätschelte dem griechischen Gott übers Haar. »Er ist unser guter Junge.« Dann segelte sie mit geblähtem Spinnaker in den Hinterhof.
Mop schaute mich an und grinste. »Sie ist gut zu mir«, sagte er mit einer seltsam näselnden Stimme, und plötzlich verstand ich den Ausdruck seiner Augen. Er war ein fünfjähriges Kind in dem muskulösen Körper eines erwachsenen Mannes. Ich wusste in diesem Moment nicht, wie ich mit ihm umgehen sollte, doch darüber hätte ich mir gar keine Gedanken machen müssen, denn Mop hatte ganz einfach Vertrauen zu mir gefasst und dabei blieb es. Ich habe nie erfahren, wie er ins Strawberry kam, ob er ein Verwandter oder möglicherweise sogar der Sohn des Ehepaars Swottle war