Der Meermann. Niels Brunse

Der Meermann - Niels Brunse


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neuen Gebet und wieder schlossen sie die Augen und bewegten die Lippen synchron. Entweder kannten sie die Worte auswendig oder diese beiden Menschen waren so eng miteinander verbunden, dass das leiseste Flüstern für ihren Einklang genügte.

      Ich konnte mich nicht losreißen, lange blieb ich stehen und schaute sie an, obwohl ich das Schamlose und Verletzende durchaus spürte – als hätte ich sie beim Beischlaf überrascht. Der Anblick erfüllte mich mit einer merkwürdigen Sehnsucht und schließlich nahm ich mich zusammen, ging zurück in das dunkle Esszimmer, legte Buch und Papier auf den Tisch und schlich mich hinaus in meinen Stall.

      Ich hatte sie tief versunken gesehen, in einer fremden Welt, an der ich nie Anteil haben würde, und vielleicht war es dieses Erlebnis, das mich ernsthaft den Entschluss fassen ließ, den Pfarrhof zu verlassen.

      4

      Thurloe ist gerade gegangen. Wieder diese Mischung aus berechtigter Furcht über seine Entscheidungen und paradoxer Freude über seine Aufmerksamkeit. Er ließ mich erzählen, was ich wollte und wie ich wollte. Heute hatte er nur zwei Fragen: Was Hugh Peters zu diesem Zeitpunkt in Norfolk machte – ich konnte nur antworten, dass ich es nicht wüsste –, und ob ich Frau und Kinder gehabt hätte, dort, wo ich herkam.

      Auf die letzte Frage antwortete ich kurz. Nein, ich hatte nur eine Freundin. Er fragte nicht weiter nach. Und ich verspürte keine Lust, ihm von der Sehnsucht nach Christine zu erzählen, die in den ersten Monaten in meiner neuen Welt an mir genagt hatte und immer stärker geworden war, je eintöniger der Alltag wurde. Die Sehnsucht war auch ein Grund, warum ich fort wollte, hin zu aufregenderen Erlebnissen, die mich an etwas anderes denken ließen. Hin und wieder versuche ich noch immer mir vorzustellen, wie es ihr wohl ergangen ist? Sicher bin ich als vermisst gemeldet worden. Vermisste sie mich? Wie sehr? Trauerte sie? Biss sie die Zähne zusammen? Bekam sie den Job im Ministerium, den sie sich gewünscht hatte? Hatte sie einen Mann gefunden, der mehr war als nur ein Wochenendliebhaber wie ich? Hatte sie Kinder? Oder war sie noch immer »aus Prinzip Single«, wie sie es nannte?

      Es gab Nächte, in denen ich wach lag und mich im raschelnden Stroh drehte und wälzte, weil ich es niemals erfahren würde. Es gab Nächte, in denen mich die Sehnsucht nach ihrem Körper heftig onanieren und den Samen ins Stroh spritzen ließ, wo er zu undefinierbaren Flecken eintrocknete, die zusammen mit all dem anderen organischen Mist ohnehin ausgekehrt wurden. Es gab Nächte, in denen ich von ihr träumte, aufwachte und erschrak, wenn ich mich daran erinnerte, wo ich war.

      Wäre unsere Beziehung anders gewesen, hätte die Sehnsucht nach Christine möglicherweise ein starkes Seil werden können, an dem ich mich ins einundzwanzigste Jahrhundert hätte zurückhangeln können. Aber das Seil hielt nicht, es zerriss, zerfiel, zerbröselte mir unter den Händen …

      Die kühle Distanz und Vorläufigkeit, die unsere Beziehung ebenso vereinfachte wie versüßte (nimm nichts als gegeben hin, nimm alles wie etwas Neues), machte sie auch zerbrechlich, das wussten wir genau. Und wenn es überhaupt eine vernünftige physische Erklärung für mein Erlebnis gäbe, hätte mein Sehnsuchtsbild von Christine selbstverständlich nichts mit der theoretischen Möglichkeit meiner Rückkehr zu tun.

      Diese Möglichkeit verwarf ich nach den ersten Tagen zwischen Euphorie und totaler Verwirrung im Grunde sofort. Wieso eigentlich? Wenn ich wirklich zurück wollte, wieso glaubte ich nicht weiterhin hartnäckig an diese Möglichkeit? Gefiel es mir besser, all das, was mein Leben ausgemacht hatte, im rosaroten Schein des sicheren Abstands zu sehen? Als ich aus der Nordsee gezogen wurde, war ich fünfunddreißig. Jetzt bin ich fünfundvierzig. Ich habe es noch immer nicht herausgefunden.

      Allerdings habe ich keine Lust, all dies dem Staatssekretär John Thurloe zu erzählen, dem Spionagechef von Oliver Cromwell.

      Ich kann ja verstehen, dass er mir Informationen über die politischen Akteure seiner Welt entlocken will. Wie Hugh Peters. Aber er lässt mich einfach reden und tut sogar so, als interessiere er sich für meine Welt, die sich nirgendwo mit seiner deckt. Frau und Kinder, wo ich herkomme? Nur sehr wenige haben mir diese Frage gestellt. Meg fragte danach. Laetitia fragte danach. Jurij fragte, natürlich. Sonst haben die Menschen mich eher als Kuriosum betrachtet, als einen interessanten Fremden, und sich mit dem Äußeren begnügt.

      Thurloe reicht das Oberflächliche nicht, er will mehr wissen. Was genau?

      Ich gehe an das Fenster mit den vielen kleinen Scheiben und den Sprossen aus Blei. Der Garten ist leer. Es muss sich um die Themse handeln, die dort draußen hinter der Hecke so breit dahinfließt. Und nach dem Stand der Sonne zu urteilen, befinde ich mich am Nordufer. Näher kann ich den Ort, an dem ich mich aufhalte, nicht lokalisieren.

      Wieso dauert es so lange, bis sie ein Urteil über mich fällen?

      5

      Meinen ersten Versuch, dem Pfarrhof zu entkommen, unternahm ich irgendwann im August. Ich erwachte sehr früh am Morgen. Kein menschliches Geräusch war zu hören, alles schlief noch, und der Himmel war gerade so hell, dass man sehen konnte, wohin man trat. Ich beschloss sehr schnell, dass jetzt der Moment gekommen sei.

      Die Idee, Winterton heimlich zu verlassen, hatte mich mehrere Wochen beschäftigt. Ich war es leid, das Gefühl haben zu müssen, ausgenützt und ausgestellt zu werden, und ich war mir so gut wie sicher, dass der Pastor sich widersetzen würde, wenn ich ihm mitteilte, dass ich fort wolle. Ich war der Ansicht, dass ich hinreichend für ihn gearbeitet hatte und ihm nichts schuldete. Ich schlich in die Küche, nahm mir ein Brot, etwas kaltes Fleisch und eines von den Tüchern, die über die Milchkannen gelegt wurden. Das Essen wickelte ich in das Tuch und verknotete es zu einem Bündel. Ich besaß nichts, nicht einmal eine Tasche, um meine Sachen zu tragen, und die kleine Kiste für die Kleider war zu schwer. Der Pastor durfte die Kleider zum Wechseln gern behalten, ich hatte beschlossen, so wenig wie möglich mitzunehmen.

      Dann brach ich auf.

      Ich hatte nicht einmal eine klare Vorstellung davon, wohin ich wollte. London hatte ich mir gedacht, denn in einer großen Stadt gibt es mehr Möglichkeiten als auf dem Land, aber ich war mir nicht ganz sicher, welchen Weg ich einzuschlagen hatte. Also wählte ich die Richtung, die so aussah, als führte sie nach Süden, das Meer lag linker Hand. Ich hatte keine Ahnung, wie lange es dauern würde. Allerdings war mir bewusst, dass mein Vorhaben nicht ungefährlich war. Schließlich besaß ich nichts und musste mich darauf verlassen, dass sich unterwegs genügend Gelegenheiten böten, um mit anzufassen und dafür etwas zu essen und ein Obdach für die Nacht zu bekommen.

      Im Laufe des Tages wurde es schwül, doch die Wolken, die sich zu einem Gewitter auftürmten, das niemals zu kommen schien, schirmten die Sonne ab, so dass ich nicht so schnell durstig wurde. Die Landschaft war flach und wechselte zwischen sumpfigen Marsch- und Moorgebieten und für Ackerbau geeigneteren Gegenden. Hin und wieder begegnete ich einem Reiter oder einem Wagen; die Leute sahen mich an, sagten aber nichts. Der Weg führte von Dorf zu Dorf und all diese Dörfer wirkten tot und verlassen, allerdings war Erntezeit und wahrscheinlich halfen die Einwohner draußen mit. Einige Male sah ich denn auch ein Stück entfernt Menschen auf den Feldern.

      Im Schatten einer kleinen Steinbrücke, die über einen Wasserlauf führte, aß ich etwas von dem Fleisch und dem Brot. Weil es nichts anderes gab, trank ich von dem Wasser, durchaus mit einer gewissen Sorge, aber es schmeckte frisch und gut. Dann ging ich weiter.

      Von Weitem sah ich drei Reiter auf mich zu galoppieren. Hinter ihnen wirbelte der Staub zu Wolken auf, als würden ihre Pferde Feuer speien und die Straße in Brand setzen. Ich trat an den Straßenrand, drehte den Kopf zur Seite und hielt die Hand vor Mund und Nase, als sie vorüberritten – dann hörte ich plötzlich, wie einer von ihnen mit einem Ausruf sein Pferd zum Stehen brachte und wendete, die beiden anderen taten es ihm nach. Als der Staub sich gelegt hatte, blickte ich in ein Gesicht, das ich schon einmal gesehen hatte. Es war der rotfleckige Baron, der mich im Pfarrhof in Augenschein genommen hatte.

      »Was haben wir denn hier?«, rief er. »Unser guter Meermann – auf Abwegen, he?«

      »Guten Morgen, Mylord«, erwiderte ich ausgesucht höflich. »Ist dies die Straße nach London?«

      »Das schon,


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