Der Meermann. Niels Brunse

Der Meermann - Niels Brunse


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schlafen. Sollte es im Laufe der Nacht ins Wasser rutschen und abtreiben, wollte ich zumindest an Bord sein.

      Ich erwachte bei Sonnenschein und einem lebhaften Nordwestwind. Nun ließ es sich problemlos segeln und kurz nach Mittag bot sich ein Anblick, der mir die Nähe des Flusses verriet, dass kein langer Weg mehr vor mir lag: Vier, fünf große Handelsschiffe, die dicht hintereinander vor Anker lagen und offensichtlich auf Hochwasser warteten. Es musste die Themsemündung sein, die sich hier öffnete.

      Während ich näher kam, begannen die Schiffe Segel zu setzen, und schon bald schaukelten sie in Richtung Land davon. Der Wind und die Tide waren eindeutig mit ihnen und ich begleitete sie durch eine weite Bucht, die sich rasch verengte und mehr und mehr von größeren und kleineren Schiffen, Jollen mit Sprietsegeln und vereinzelten Schaluppen befahren wurde, die sechs oder acht Männer ruderten. Geräusche von knallendem Segeltuch und knarrendem Tau vermischten sich mit dem Glucksen und Rauschen des Wassers und den Kommandorufen der Bootsmänner; die Schiffe glitten vorüber wie große Seevögel mit ausgespannten Schwingen. Es war ein phantastischer Anblick, aber ich hatte keine Zeit, ihn zu genießen.

      Der Wind hatte noch mehr auf Nord gedreht und die Schiffe und Jollen machten gute Fahrt. Ich hielt mich, so nah ich konnte, am Ufer zu meiner rechten Seite, um manövrierfähigeren Booten nicht in die Quere zu kommen. Und dann passierte es. Mit einem splitternden Geräusch kam mein Boot ruckartig zum Stehen und ich starrte auf das spitze Ende eines schräg abgebrochenen Pfahls, der sich direkt unter der Wasseroberfläche verborgen hatte und nun eine morsche Stelle am Bootsboden durchbohrte – Flusswasser drang durch das Loch. Durch den Wind und die Strömung begann mein Boot zu schwojen und die Drehbewegung ließ das Leck nur noch größer werden. Ich hatte keine Wahl, ich musste über Bord springen. Das Wasser war brackig und undurchsichtig. Ich hielt meine kleine Kiste über den Kopf und sprang aufs Geratewohl hinein. Glücklicherweise fand ich Grund unter den Füßen. Bis zu den Achseln stand ich im Wasser und die Strömung riss mich beinahe um, doch nach ein paar zappelnden Schritten kam ich dem Ufer näher.

      Bald stand ich am sicheren Ufer, durchnässt und schlammiggrau, und sah zu, wie mein kleines Boot langsam kenterte und sank. Aber so aufgespießt wie es war, konnte es weder ganz untergehen noch abgetrieben werden, die Segel flatterten wirr im Wind. Ich war drauf und dran, mich noch einmal ins Wasser zu werfen, um sie zu bergen, sah aber ein, dass es sinnlos war. Stattdessen fiel mir ein, dass ich das Boot nie getauft hatte – und im Stillen gab ich ihm den Namen Spatz. Obschon kein richtiger Seevogel, war er doch tapfer geflogen und hatte mich beinahe bis London gebracht.

      Das war das zweite Mal, dass ich ein Boot verlor. Nur gab es diesmal niemanden, der mich rettete; ich musste selbst zu der staubigen Straße finden und mit durchweichten, schmatzenden Schuhen in Richtung Stadt gehen, die ich nur als gelblichbraunen Dunst am Horizont ahnte – es war der Rauch der vielen Schornsteine. Die Sonne schien, aber sie hatte nicht die Kraft, um das nasse Zeug an meinem Körper zu trocknen, und die Schatten waren bereits lang geworden, als ich an einem Fachwerkhaus vorbeikam. Es war ein Haus mit zwei Stockwerken, in der Mitte gab es eine Toröffnung und über der Eingangstür hing ein Schild an einer Stange. Das Schild stellte einen Elefanten dar, eindeutig von jemandem gemalt, der ein derartiges Tier noch nie gesehen hatte. Ich vermutete, dass es sich um ein Wirtshaus handelte.

      Ich blieb stehen und dachte: Warum soll ich es nicht versuchen? Ich war müde und hungrig, und die Kälte der klammen Kleider zog mir in die Knochen. Der Gedanke an eine weitere Nacht im Freien war unerträglich. Ich trat unter dem Elefantenschild ein und wurde von einem feisten Mann in einer schmutzigen Leinenschütze empfangen. Er sah ebenso unwirsch wie zuvorkommend aus und ich war ziemlich sicher, dass es sich um den Wirt handeln musste.

      »Kann ich hier meine Kleider trocknen?«, war das Erste, was ich sagte.

      Er musterte mein nicht sonderlich vertrauenerweckendes Äußeres und fragte: »Hast du Geld?«

      »Mein Boot ist auf dem Fluss gesunken«, erwiderte ich. »Ich habe nur das hier.« Und stellte die Kiste auf einen Tisch.

      Er öffnete sie und nahm die Sachen heraus. Die Strümpfe gab er mir sofort zurück, aber das Hemd interessierte ihn. Er befühlte den Stoff und suchte ihn nach abgenutzten Stellen ab; es störte ihn offenbar nicht, das es nach dem Regenguss auf dem Meer noch immer feucht war. Die Kiste wurde von allen Seiten begutachtet.

      »Dafür kannst du heut Nacht ein Bett bekommen, Holz für den Kamin sowie Brot und Käse«, erklärte er und klopfte mit einem Finger auf die Kiste. »Und für das Hemd zehn Pence.«

      Wahrscheinlich war es viel zu wenig, aber ich schlug ein. Später sollte ich mich noch oft genug mit Brot und Käse begnügen müssen, aber dort in der Wirtsstube schmeckte es zusammen mit einem großen Krug kühlen Wassers, das der Wirt gnädigerweise nicht berechnete, großartig.

      Auch am Kaminfeuer der Kammer, die man mir anwies, war nichts auszusetzen. Als ich meine Mahlzeit beendet hatte, war bereits jemand dort gewesen und hatte angefeuert. Mir stand die Kammer zunächst allein zur Verfügung, obwohl sich drei Betten darin befanden; ich hängte meine noch immer klammen Sachen über ein paar Stuhllehnen vor das Feuer und kroch nackt zwischen die Laken.

      Die Matratze war aus Stroh, aber es war eine Matratze. Und es gab Laken. Und eine Wolldecke. Und das Bettgestell stand auf dem Boden und bestand nicht nur aus einem Strohhaufen auf der bloßen Erde. Beinahe hatte ich vergessen, was für ein Gefühl es war, auf zivilisierte Weise zu schlafen. Vor Müdigkeit und Erleichterung schlief ich auf der Stelle ein.

      Ich erwachte, als der Wirt mit einer Kerze in der Hand einen anderen Reisenden ins Zimmer führte. Da ich ja wusste, dass so etwas passieren konnte, war ich nicht sonderlich überrascht. Draußen war es dunkel, aber die Glut im Kamin leuchtete noch immer schwach, und so konnte ich erkennen, wie der Fremde Mantel und Stiefel auszog und neben dem Bett, das man ihm zugewiesen hatte, kniete. Er war einfach gekleidet und hatte, soweit ich sehen konnte, ein zerfurchtes Gesicht und graues schulterlanges Haar. Kaum ein gefährlicher Zimmergenosse, vielleicht ein älterer Kaufmann auf dem Weg nach London, so wie ich. Er betete ein unverständliches, von Räuspern und Husten durchsetztes Nachtgebet und kam danach nur mühsam auf die Beine, wobei er einen gediegenen Furz von sich gab. Bald schnaufte er still und friedlich in seinem Bett.

      Nicht der neue Mitbewohner hielt mich wach. Es war ein in mir aufsteigender Gedanke, der mich am Einschlafen hinderte. Nun hatte ich mich so weit von Winterton entfernt und hatte so viel Neues gesehen, und doch gab es noch immer keinen, aber auch nicht den kleinsten Hinweis darauf, dass ich mich möglicherweise doch in meiner eigenen Zeit befand. Alles passte in »die Zeit der anderen«, und wenn ich noch eine winzig kleine Hoffnung gehabt hatte, einen Riss in dem Bild zu finden, so musste ich jetzt sogar diesen kleinen hypothetischen Vorbehalt abschreiben. Es war, als hätte das Schicksal – oder was auch immer es war – sich einen Spaß damit gemacht, meine Faszination für frühere Zeiten beim Wort zu nehmen und sie mich nun persönlich erleben zu lassen. Ich dachte an meinen Spitznamen im Gymnasium und auf der Universität – er war mir bis auf die Uni gefolgt, weil einer meiner Klassenkameraden sein Anglistikstudium gleichzeitig mit mir begann. John Gammeldags, John Altertümlich. Manchmal verdrehten meine Freunde die Augen zum Himmel, wenn ich mich über Holbergs Episteln, Shakespeares archaische Schurken oder Dickens’ Beschreibungen der merkwürdigsten, längst verschwundenen Milieus verbreitete. Und Milton, ganz ehrlich! Sie hätten sich eher einen Arm der Länge nach gebrochen, als sich mit Miltons Versen zu beschäftigen. Doch Milton hatte irgendetwas in mir angestoßen und plötzlich entdeckte ich, dass ich noch immer Bruchstücke seiner Gedichte auswendig konnte, obwohl ich nicht sonderlich viel dafür getan hatte. Leider war das aber auch schon alles, ich hatte mich überhaupt nicht mit seinem Hintergrund und seiner Zeit beschäftigt; jetzt hätte es mir wirklich nützen können … Waren all meine Erlebnisse hier nur ein langer Traum, eine mystische Visite all der Vorstellungen, die ich mir gemacht hatte? Aber wieso gerade England und warum diese Epoche? Und wenn es ein Traum war, hatte ich doch noch nie einen Traum erlebt, der so lang dauerte und sich physisch so lebendig präsentierte. Noch immer hatte ich Schrammen und blaue Flecken, weil ich für Pastor Strongworth schwere Lasten schleppen musste, und an den Fingern meiner rechten Hand waren noch immer die Spuren seiner Tinte zu erkennen …

      Ich muss dennoch eingeschlafen sein, denn


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