Der Meermann. Niels Brunse
an gewissen Wahnvorstellungen leide und sich einbilde, die Zukunft zu kennen, aber mit Gottes Hilfe würde er Master John schon wieder auf den rechten Weg bringen. Die angespannte Atmosphäre zwischen den beiden Geistlichen, die ich bereits bemerkt hatte, als ich eintrat, verschärfte sich, und nach einem weiteren Versuch und einer weiteren Einmischung von Strongworth brach Peters das Gespräch ab und verabschiedete sich kühl.
Als er fortgeritten war, packte Pastor Strongworth mich hart am Arm und fuhr mich an: »Du sollst nicht prophezeien, Master John, das kann dich das Leben kosten. Auf dem Scheiterhaufen.« Dann schickte er mich wieder hinaus aufs Feld.
Er hat ja recht, dachte ich unterwegs erschüttert. Im siebzehnten Jahrhundert wurden Hexen und Hellseher noch verbrannt.
Strongworth ehrte den Sonntag und heiligte ihn. Wenn wir am Sonntag den Besuch des Gottesdiensts hinter uns hatten, verlangte er nichts mehr von mir. Am ersten Sonntag war ich überrascht, als ich ihn und seinen Hausstand in die graue Kirche begleitete, deren mächtiger viereckiger Turm in der flachen Landschaft so weit zu sehen war. Der Innenraum der Kirche erschien mir nicht sonderlich groß, aber sie war bis zum letzten Platz gefüllt; ich hatte den Eindruck, als wäre die gesamte Gemeinde erschienen, in den Reihen erkannte ich auch meine Fischerfreunde. Nach dem Gottesdienst bemerkte ich Strongworth gegenüber, dass er ein bekannter Geistlicher sein müsse, wenn so viele Gläubige seine Kirche aufsuchten. Er erwiderte trocken, dass sie kämen, um Gottes Wort zu hören, nicht seines, und im Übrigen wäre es gesetzlich verboten, dem sonntäglichen Gottesdienst fernzubleiben.
Dass er der Worte mächtig war, erfuhr ich dennoch Sonntag für Sonntag. Wenn er auf die Kanzel humpelte und zu predigen begann, bekam seine ohnehin schon klangvolle Stimme ein noch größeres Volumen, er schmetterte die Konsonanten und ließ die tiefen Vokale in Worten wie »alMIGHty GOD«, »CHRIST the LORD«, »deVOURing FIRE« und »eternally DAMNed« zwischen den Steinwänden dröhnen. Es gab nicht eine Bibelstelle, die er nicht so interpretierte, dass sie von der Sünde aller irdischen Pracht und Herrlichkeit handelte; von der Strafe, die auf die Eitlen und diejenigen wartete, die Gottes Allgewalt über die eigene unbedeutende Macht hier auf Erden nicht anerkannten; und von der Belohnung der Seligen für ihre Demut und mäßige Lebensweise. Die Kirche war spartanisch und frei von jeglichem Bilderschmuck und die Lieder erklangen einstimmig und eintönig. Es gab nicht einmal eine Orgel.
Pastor Strongworth war Puritaner, zweifellos. Ich versuchte mich zu entsinnen, was ich in dem Semester, als ich den Kurs über Milton besuchte, über den Puritanismus gelesen hatte. Leider erinnerte ich mich am besten an einige von Miltons Versen; doch mir dämmerte, dass wir uns mitten im englischen Bürgerkrieg befinden mussten, in dem die Puritaner und das Parlament gegen den König und die Royalisten kämpften. Der König – Karl I.? – wurde hingerichtet und Cromwell übernahm die Macht als Lordprotektor, bis Karl II. sechzehnhundert und wasweißdennich zurückkehrte … Hätte ich den ganzen Stoff doch bloß besser gepaukt!
Wieder wurde mir das Absurde meiner Situation klar, während ich mich in der Dorfkirche zurechtzufinden versuchte, gestrandet in Zeit und Raum. Es gab keine andere sinnvolle Erklärung, und doch war es sinnlos und meine Einsamkeit fürchterlich. Die Männer auf den Bänken neben mir – denn die Gemeinde saß sittsam getrennt nach Männern und Frauen auf je einer Seite des Mittelganges – schauten mich verstohlen an und glaubten wahrscheinlich, mich hätten die Worten des Pastors ergriffen. Aber wenn ich die Augen zusammenkniff und nicht zu weinen versuchte, dachte ich nur an mich selbst.
Nach dem Gottesdienst aßen wir am ersten Sonntag im Pfarrhaus, und hinterher erklärte der Pastor mir, ich könne mich ausruhen oder spazieren gehen. Allerdings sollte ich am Abend wieder zurück sein, doch ein Gebet unter freiem Himmel wäre Gott ebenso genehm wie ein Gebet in der Kirche. Ich ging, aber ich betete nicht. Meine erste Wanderung führte mich zum Strand, um dem Fischer John die geliehenen Kleider zurückzugeben. Ich hatte vom Pastor zwei Hemden, ein Paar Hosen, vier Paar Strümpfe, ein Paar Schuhe und eine Art lange Jacke bekommen, alles abgenutzt, aber heil und sauber. Außerdem hatte er mir eine kleine alte Kiste gegeben, um die Kleider in meiner Box im Stall zu verwahren. Das war großzügiger, als mir zu diesem Zeitpunkt bewusst war, denn obwohl es sich um die ältesten Kleidungsstücke des Pastors handelte, hatte er seine Garderobe dadurch im Grunde halbiert. Alles war ein wenig zu klein und die Schuhe drückten – auf dem Weg zum Strand zog ich deshalb Schuhe und Strümpfe aus –, aber es war eindeutig eine Verbesserung.
Die Fischer freuten sich über unser Wiedersehen, fast hatte ich das Gefühl, nach Hause zu kommen, als ich ihre zusammengezimmerten Hütten sah. In den folgenden Monaten besuchte ich sie häufig und plauderte mit John und Meg über dieses und jenes oder erzählte dem kleinen Harry Geschichten – von den griechischen Göttern, von Hamlet und König Lear und von einer Zeit, in der die Menschen an Bord großer Schiffe gehen und bis zum Mond und den Sternen fliegen würden. Er hörte mit offenem Mund zu und auch die Erwachsenen lauschten mit gespitzten Ohren, während sie so taten, als wären sie damit beschäftigt zu nähen oder die Netze zu reinigen. Sie waren der Ansicht, dass der Ruhetag ausreichend eingehalten wäre, wenn sie nicht hinausfuhren.
Wenn es irgendwo einen Ort unter Menschen gab, an dem ich mich in diesen Monaten geborgen fühlte – ja, in all den zehn Jahren, die ich nun in meiner Zeitverschiebung zugebracht habe –, dann bei den Fischern in diesem namenlosen Weiler bei Winterton.
Die einzige Tätigkeit, die auch meinen Gedanken etwas Nahrung lieferte, waren die Kopierarbeiten, mit denen Pastor Strongworth mich beschäftigte. Irgendwann hatte er gefragt, ob ich lesen und schreiben könnte, und als ich es bejahte, hatte er mir einen Federkiel in die Hand gedrückt und mich gebeten, einen Satz zu kopieren, den er auf ein Stück Papier geschrieben hatte. Dies gelang mir problemlos, denn glücklicherweise verwendete er wie alle Engländer die leicht zu entziffernden lateinischen Buchstaben und nicht diese undurchschaubare Frakturschrift, die ich nur von den Furcht einflößenden Karteikästen der Älteren Sammlung in der Königlichen Bibliothek von Kopenhagen kannte. Ich hatte sie nie lernen müssen.
Pastor Strongworth lachte, als er bemerkte, welche Mühe ich mit etwas so Simplen wie dem Zuschneiden und Anspitzen eines Federkiels hatte, aber er half mir mit dem Federmesser. Und ich lernte auch rasch, die Feder rechtzeitig in die Tinte zu tunken und klare und deutliche Buchstaben zu schreiben. Er ließ mich bestimmte Abschnitte aus geliehenen Büchern abschreiben; nahezu alle waren in Latein verfasst und soweit ich es übersehen konnte, ging es darin um theologische Fragen. Ich verstand nicht viel von dem, was ich kopierte, und schon gar nichts von den griechischen Zitaten, die bisweilen in den Texten standen, aber ich malte die griechischen Buchstaben so sorgfältig ab, wie ich konnte, und alles war zu seiner Zufriedenheit.
Manchmal schrieb ich an dem alten Eichenholztisch bis weit in den Abend hinein – mithilfe einer Talgkerze, die mir die Magd brachte, bevor sie zu Bett ging. Ich hatte mit dem Papier sparsam umzugehen – der Pastor zählte die Bögen, die er mir überließ – und eng, aber leserlich zu schreiben. Diese penible Aufgabe und die verschwommene Ahnung über den Inhalt der Texte, die ich mir mithilfe meiner bescheidenen Lateinkenntnisse und des üblichen Vorrats an Fremdworten verschaffte, genoss ich in einer Weise, gegen die physische Arbeit keinerlei Chance hatte.
Eines Abends saß ich daher sehr lange mit Feder und Tinte am Tisch. Als ich endlich fertig war, ordnete ich die Bögen, pustete die Kerze aus und wollte gehen – doch draußen im Korridor bemerkte ich, dass die Tür zum Studierzimmer des Pastors nur angelehnt war und ein schwacher Lichtschein aus dem Zimmer fiel. Ich dachte, ich könnte ihm die fertige Abschrift ebenso gut gleich geben, holte die Papiere und ging auf den hellen Türspalt zu.
Noch bevor ich klopfte, konnte ich in das Studierzimmer blicken. Was ich sah, ließ mich innehalten. Der Pastor und seine Frau knieten zu beiden Seiten eines Stuhles und der Schein eines Kerzenleuchters an der Wand erhellte ihre Gesichter. Ich vermutete, dass er sein versehrtes Bein unbeholfen zur Seite ausgestreckt hatte; sie stützte wie er die Ellenbogen auf den Stuhl. Beide hielten die Augen geschlossen und sein sonst so strenger Gesichtsausdruck war in sich gekehrt und wehrlos. Und ihre Miene, normalerweise scharf wie eine Axt, war nun sanft und heiter.
Sie bewegten nur stumm ihre Lippen, vielleicht sprachen sie aber auch so leise, dass ich nichts hören konnte, obwohl ich nur wenige Meter entfernt stand. Sie beteten. Von