Der Meermann. Niels Brunse
am Mittwoch, den 12. Juni, an der Küste aufgefischt, die ich erreichen wollte – allerdings nicht auf diese Weise. Der Gedanke schien wahnsinnig. Nur war das Vorausgegangene nicht weniger wahnsinnig gewesen.
Gegen zehn Uhr abends dänischer Zeit, am zweiten Tag meiner Abreise aus Skagen, kam Land in Sicht. Schwache Lichter an der englischen Küste. Es wurde allmählich dunkel und ich wusste nicht ganz genau, wo ich war. Der Wind hatte aufgefrischt und kam jetzt mehr aus östlicher Richtung, und ich war in den letzten Stunden zügig vorangekommen und hatte genug damit zu tun gehabt, auf das Ruder und die Segel zu achten, so dass – abgesehen von den Informationen, die der Kompass mir gab – keine Zeit geblieben war, die Position zu bestimmen.
Kurz nach der Landkennung geschah es. Plötzlich öffnete sich direkt vor dem Boot im Wasser eine Art Kluft oder riesengroße Furche, die nach backbord schräg abfiel. Ihre Seitenwände wuchsen und weiteten sich zu einem Tunnel oder einem Loch – ich könnte nicht sagen, ob das Meer sich aufbäumte oder das Boot hinabstürzte, in jedem Fall aber wurde das Schiff mit einer geradezu unwiderstehlichen Kraft in diesen eigenartigen Hohlraum hineingesogen. Ich hatte das Gefühl, als stiege die Geschwindigkeit bis an die Grenze des Erträglichen, als säße ich in einem beschleunigenden Flugzeug, nur sehr viel extremer; die Gravitation des Körpers war auf eine sonderbare Weise nicht richtungsbestimmt, sondern kam wie ein Druck von allen Seiten gleichzeitig. Ich fühlte mich wie breitgetreten, das ist die beste Umschreibung, die mir dafür einfällt. Die Wände des Tunnels wogten, aber auf eine gelee- oder gummiartige Weise, es sah nicht mehr aus wie Wasser. Ich blickte nach oben – oder nach vorn oder in welche Richtung auch immer – und sah die Tunneldecke über mir wie einen glasklaren, schaukelnden Himmel; die Mastspitze zerschnitt ihn offensichtlich in einem rasenden Tempo, allerdings ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Das Licht wechselte vom Dämmerlicht in eine tiefblaue Farbe, die intensiv glühte und immer dunkler wurde, bis hin zu Indigo und weiter zu Violett, und mir schoss ein Gedanke durch den Kopf: Ist dies nun eine Halluzination oder der nahende Tod? Dann wechselte das Licht ohne Vorankündigung in ein blendendes, strahlendes Rot, danach kann ich mich an nichts mehr erinnern. Das rote Licht war ebenso erschreckend wie wunderbar lebendig, es zog mich an, nein, es verlangte nach mir mit einer Vehemenz, wie ich sie weder vorher noch später je wieder verspürt habe.
Und dann: das Gefühl von sanft schaukelndem Wasser, von Sonnenreflexen; ich trieb rücklings auf der Meersoberfläche und bewegte aus einem tiefverwurzelten Schwimmreflex die Arme und Beine ein wenig. Ich hätte ertrunken sein müssen, aber ich lebte.
Und etwas weiter entfernt entdeckte ich ein Fischerboot.
2
Ich muss mir alles ins Gedächtnis zurückrufen. Thurloe will alles wissen. Und es taucht mit verblüffender Deutlichkeit auf, als ob es einfach in meinem Hirn gelegen und darauf gewartet hätte, hervorgeholt zu werden.
Heute ist er beinahe zwei Stunden bei mir gewesen, und er hat mir erklärt, es wäre nur der erste von vielen weiteren Besuchen – jedenfalls so lange wir brauchten, um bis ans Ende dieser Geschichte zu gelangen. Eine etwas bedrohliche Bemerkung. Er unterbricht mich nicht, er macht sich auch keine Notizen, hört aber mit intensiver Aufmerksamkeit zu; ich bin sicher, dass er sämtliche Details, die er möglicherweise verwerten kann, erfasst und sich daran erinnern wird. Außerdem ist er geradezu versessen darauf, das Ganze aus meinem eigenen Mund zu hören. Der neutrale Blick seiner Augen wechselt bisweilen in Ungläubigkeit oder blankes Unverständnis, aber er hebt nicht einmal die Augenbrauen, er bittet lediglich um eine weitere Erklärung, wenn ich meinen Satz beendet habe.
Es bereitete mir einige Schwierigkeiten, ihm zu erklären, was ich einmal gewesen bin: Programmredakteur von Danmarks Radio. Gut, dass ich nicht beim Fernsehen war, dann wäre es noch komplizierter geworden. Der Idee einer Einrichtung, die Stimmen und Musik in die Luft schickt, so dass sie im ganzen Land mithilfe kleiner Kästen gehört werden können, gab ihm eine harte Nuss zu knacken. Elektromagnetische Wellen, unsichtbare Wellen in der Luft, sagte ich zu ihm. Wellen in der Luft, wiederholte er. Das musste vorerst als Erklärung reichen, aber ich sah ihm an, dass er diese Frage denen zuordnete, die eine genauere Erläuterung erforderten. Von anderen, nicht von mir.
Sein langes hellbraunes Haar fällt über die Schultern und den schneeweißen Kragen aus steifem feinen Leinen, der seine schwarze Samttracht abschließt. Seine Hände sind gepflegt, bisweilen faltet er sie vor sich auf dem Tisch, dann wieder streckt er sie aus, die Handflächen nach unten. Sein langes markantes Kinn bewegt sich auf und ab, wenn er, beinahe ohne jede andere Mimik, spricht. Er sieht dann aus wie eine dieser Marionetten, deren Mund sich mit einem Zug an der Schnur öffnen und schließen lässt. Seine Augen sind allerdings ganz und gar nicht die einer Puppe.
Er ist mein Feind und ich erwarte morgen seinen Besuch.
3
Nach einer Nacht, in der ich abwechselnd tief schlief und aus innerer Unruhe oder vor Kälte aufwachte, wurde ich am nächsten Morgen geweckt, als mich jemand sanft an der Schulter rüttelte. Ich schlug die Augen auf und sah, wie Will sich über mich beugte. Reflexartig schaute ich auf mein linkes Handgelenk, nachdem ich mich aufgerichtet hatte, aber meine Uhr war ja nicht mehr da, sie war zusammen mit meinen übrigen Habseligkeiten verschwunden.
»Da wartet ein Mann auf dich«, sagte Will. »Vom Pastor.«
Schlaftrunken und hungrig folgte ich ihm bis zu einem schmalen Pfad, auf dem tatsächlich ein breitschultriger Mann in Grau stand und mit Pferd und Karren auf mich wartete. Das Pferd ließ den Kopf hängen, auf dem Karren lag eine dünne Lage Stroh, und der Mann gab mir wortlos ein Zeichen, dass ich mich daraufsetzen sollte. Ich tat es, und während Will mir nachsah und erst eine Hand zum Gruß hob, als ich mich schon so weit entfernt hatte, dass ich seine Gesichtszüge nicht mehr erkennen konnte, wurde ich langsam in Richtung des Kirchturms gefahren, den ich am Vortag entdeckt hatte. Der Karren war hart und unbequem und der Weg holprig; es knarrte und rumpelte, eigentlich wäre es bequemer gewesen, selbst zu gehen, aber aus irgendeinem Grund sollte ich wie eine Ladung Brennholz oder ein Sack Kartoffeln zu diesem Pastor gefahren werden. Er musste ein mächtiger Mann im Dorf sein, da offenbar alle widerspruchslos, seinen Anordnungen Folge leisteten.
Wir hielten vor einem Steinhaus, das zurückgezogen in einem Garten mit großen Büschen und Hunderten von blühenden Rosen stand. Der Pfarrhof, dachte ich, und ganz richtig: Als die Haustür aufging, öffnete der Knecht endlich seinen Mund und sagte: »Da kommt der Pastor. Er heißt Jonathan Strongworth. Vergiss das nicht.«
Ich beobachtete Pastor Strongworth, als er über die Steinplatten des Gartenweges schritt. Er hatte einen schwankenden, humpelnden Gang, der auf ein steifes oder möglicherweise verkrüppeltes Bein hinwies, und stützte sich auf einen Stock mit einer Stockzwinge, die bei jedem zweiten Schritt einen kleinen Knall auf den Steinen verursachte. Sein Gesicht war hager und unrasiert. Unter einer Art langen Weste mit vielen Knöpfen, die nur vom Hals bis zur Mitte des Bauches zugeknöpft waren, trug er lediglich ein Hemd.
Als er den Karren erreicht hatte, musterte er mich eine Weile prüfend. »Das also ist der Meermann«, stellte er mit einer überraschend klangvollen Stimme fest.
»Ich bin kein Meermann«, erwiderte ich in meinem besten Oxford-Englisch. »Ich bin ein menschliches Wesen wie Ihr und alle anderen. Mein Name ist John Vivilt und ich komme aus Kopenhagen in Dänemark.«
Seine einzige Reaktion bestand darin, mit der Hand ein kleines silbernes Kruzifix aus der Tasche zu ziehen und es mir entgegenzustrecken, als wäre es ein Messinstrument. Da ich mich weder in Schmerzen wand noch heulte oder Feuer spie, schien er hinsichtlich meiner menschlichen Beschaffenheit zufrieden zu sein.
»Glaubst du an unseren Herrn Jesus Christus?«, fragte er und heftete seinen bohrenden Blick auf mich. Ich hielt es für das Ratsamste, alle Diskussionen und Einschränkungen zu ignorieren und ganz einfach mit Ja zu antworten.
Er nickte. »Hast du gegessen, master John?«, erkundigte er sich dann mit einer Anrede, aus der ich nicht klug wurde. War es höflich oder herablassend gemeint? Jedenfalls hatte ich nichts gefrühstückt, und außerdem spürte ich einigermaßen dringend, dass ich seit dem Vortag nicht auf der Toilette gewesen war. Ich bedankte mich für die Einladung zum