Der Meermann. Niels Brunse

Der Meermann - Niels Brunse


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die Natur ruft«, sagte er. »Benutz den Stall.« Er deutete auf die halb geöffnete Tür eines Fachwerkgebäudes hinter dem Pfarrhaus.

      Ich ging hinein. Der Stall verfügte über einige Viehboxen, aber nur das Pferd, das den Karren gezogen hatte, stand dort und wurde vom Knecht des Pfarrhofes gestriegelt. Der Bursche sah meinen suchenden Blick und zeigte stumm auf die Rinne vor den Boxen – Mistgang wird sie wohl genannt. Er entfernte sich nicht, sondern drehte mir lediglich den Rücken zu, während ich mir die Fischerhose herunterzog und mich in die Hocke setzte. Es sah aus, als wäre ich nicht der einzige Mensch, der erst kürzlich hier gehockt hatte. Hinterher wischte ich mich mit einem Büschel Stroh ab. »Wo kann ich mir die Hände waschen?«, fragte ich den Knecht, der mich verwundert ansah, so dass ich die Frage wiederholte. »In der Küche, würde ich meinen«, erwiderte er und machte eine unbestimmte Handbewegung in Richtung des Steinhauses.

      In der Küche traf ich auf eine Dienstmagd, die bei meinem Anblick die Augen aufsperrte und die Hand vor den Mund hielt. Dennoch half sie mir mit einer Schüssel und einer Kanne Wasser und reichte mir ein dünnes Leinenhandtuch, als ich meine tropfenden Hände aus der Schüssel nahm. Sie musste von mir gehört haben, denn hinterher führte sie mich – mit vorsichtigem Abstand – in eine Stube, in der der Pastor und seine Frau an einem alten Eichenholztisch saßen.

      An den Tisch kann ich mich sehr genau erinnern. Viele Stunden sollte ich daran sitzen, in Gesellschaft von Pastor Strongworth und seiner mageren Ehefrau Deborah, zusammen mit neugierigen Gästen des Pastors oder ganz allein mit meinen Kopierarbeiten. Es war ein schwerer, solider Tisch mit einer dicken, vom Alter gedunkelten Platte, die sich ein wenig gebogen hatte, so dass der Tisch nicht ganz eben war; er konnte gut mehrere hundert Jahre alt sein, der Stil war schwer zu bestimmen. Der Tisch wurde eine Art Ankerpunkt in meiner Zeit auf dem Pfarrhof, ein Ort, an dem ich mit einer fremden Welt konfrontiert wurde, einer fremden Gedankenwelt in all ihren unterschiedlichen Aspekten. Gleichzeitig aber auch der Ort, an dem ich etwas erhielt, um mich für das Tagwerk zu stärken, denn bereits nach dem ersten Tag wurde es zu einer festen Regel, dass ich mit am Tisch saß statt mit dem Knecht und der Magd in der Küche zu essen. Dies geschah nur, wenn der Pastor unterwegs war und Frau Deborah ihre Mahlzeiten sittsam allein einnahm.

      Nach dem Tischgebet und den ersten Bissen der Mahlzeit – Grütze, Brot, Käse, gesalzene Heringe und dünnes selbstgebrautes Bier, kein Tee, wie ich anachronistisch erwartet hatte – begann der Pastor, mich auszufragen. Vor allem die Mitteilung, dass ich so gut Englisch sprach, weil ich es auf der Universität studiert hatte, interessierte ihn. Wieso unterrichtete man die Sprache eines fremden Landes auf der Universität von Kopenhagen und nicht nur Latein, Griechisch und Hebräisch? Meine Antworten wurden zunehmend unbestimmter und schließlich nahm ich meinen Mut zusammen und konfrontierte ihn mit meiner Vermutung: »Ich glaube – selbst wenn es Euch unverständlich erscheinen mag –, dass ich in der Zeit zurückgereist bin, mehr als dreihundertundfünfzig Jahre. Ich habe Dänemark im Jahr 2005 verlassen und nun schreiben wir 1647, soweit ich es verstanden habe …«

      Er sah mich eine ganze Minute an, als wollte er den Gedanken begreifen oder meine mentale Gesundheit beurteilen. Dann sagte er: »Master John, man kann nicht durch die Zeit reisen. Gott hat bei der Erschaffung der Welt die Zeit eingerichtet, damit wir unsere Zeit leben und hinterher in das ewige Leben eingehen können, wenn wir es verdient haben. Die Zeit ist eine Eigenschaft, kein Land, in das man reisen und wieder zurückkommen kann. Möglicherweise wärest du beinahe ertrunken, als dein Boot unterging – und Menschen, die dem Tode nahe gewesen sind, können unter den merkwürdigsten Wahnvorstellungen leiden. Aber hab keine Angst, das gibt sich bald wieder.«

      Nach diesen besänftigenden Worten aß er weiter. Und jedes Mal, wenn ich ihn in den Monaten danach mit einer sonderbaren Information über die Welt, die dereinst kommen würde, überraschte, beruhigte er mich wieder mit der gleichen felsenfesten Überzeugung, dass ich im Irrtum sei und er recht habe. Ich konnte ihn nicht einen Zoll davon abbringen.

      Ebenso unwiderruflich war sein Beschluss, mich in sein Haus aufzunehmen. Die armen Fischer vom Strand könnten mich weder unterbringen noch ernähren, erklärte er, daher würde er mir ein Dach über dem Kopf, Kost und Kleidung anbieten – unter der Bedingung, dass ich bei ihm bliebe und für ihn arbeitete, wenn es etwas zu erledigen gab.

      Ich sah die Fischer vor mir – ihre zerschlissene Kleidung, ihre engen Hütten – und mir wurde klar, dass er recht hatte. Ich akzeptierte. Damit hatte ich eine Art Job und Pastor Strongworth hatte seinen Haustand um ein Kuriosum erweitert.

      Allerdings hätte ich wissen müssen, dass es tatsächlich immer etwas zu tun gab. Wenn ich nicht Brennholz für die Feuerstelle in der Küche zu hacken hatte, musste ich der Dienstmagd helfen, die zwei Kühe des Pastors zu melken und zu tränken – sie molk und ich trug die Eimer hin und her –, bevor das Vieh im Sommer auf die Weide kam. Und wenn im Stall nicht nach den Tieren (und Menschen) ausgemistet werden musste, war ein Zaun oder ein Gatter zu reparieren. Hatte ich nicht der Pastorengattin behilflich zu sein, wenn sie mit einer groben Schere im Garten umherging und ihre Rosen pflegte, so gab es zumindest ein Beet, das umzugraben oder zu jäten war.

      Oft war ich vollkommen erschöpft, wenn ich mich auf mein Strohlager in der hintersten Box des Stalls legte. Der Knecht und das Mädchen hatten kleine Kammern im steinernen Hauptgebäude und zunächst fühlte ich mich gedemütigt, wie ein Tier in den Stall verwiesen zu sein – aber es hatte seine Vorteile. Ich war allein, die Menschen ließen mich in Ruhe, und das Pferd schnaubte leise und stampfte mit den Hufen auf den Boden, was sehr beruhigend klang. Sogar an das Rascheln der Mäuse im Stroh gewöhnte ich mich.

      Darüber hinaus gehörte es zu meinen Pflichten, mich als Sehenswürdigkeit bereitzuhalten, wenn der Pastor Gäste empfing. Meist handelte es sich um Kollegen aus den Nachbargemeinden oder Adlige, die den Feudalherrn des Dorfes besuchten. An einem der ersten Tage, nachdem ich in den Stall des Pfarrhofes gezogen war, erschien der Gutsherr persönlich. Es war das einzige Mal, dass ich Pastor Strongworth unterwürfig erlebte. Es hieß »Mylord« hier und »Mylord« da, und der Baron wandte sich mit seinem feisten, rotfleckigen Gesicht jedes Mal an den Pastor, wenn er mich etwas fragen wollte, worauf der Pastor die Frage für mich zu wiederholen hatte, als wäre es unter Mylords Würde, mit einem Geschöpf meiner Art direkt zu sprechen.

      Die Besucher stellten mir die sonderbarsten Fragen und völlig schwachsinnige Aufgaben – so sollte ich zwei und zwei zusammenzählen, die Frage beantworten, wie der erste Mensch hieß, oder spitzfindige naturwissenschaftliche Probleme lösen: Woher kommt das Wasser im Meer oder was lässt den Wind wehen. Einige wollten mehr über das Land hören, aus dem ich stammte, andere wollten meine Arme oder meine Zähne prüfen. Ich wurde entweder behandelt wie ein an Land gespülter Idiot, dessen Intelligenz man als zweifelhaft anzusehen hatte, oder als eine Art Fabelwesen, das ein übernatürliches Wissen besaß. Sehr bald schon war es nicht mehr lustig – jedenfalls nicht für mich.

      Es gab eine Ausnahme. Eines Tages, kaum ein paar Wochen nach meiner Ankunft, wurde ich vom Feld geholt, weil wieder einmal ein Gast eingetroffen war. An diese Begegnung erinnere ich mich noch sehr gut, denn mit diesem Gast sollte ich später mehr zu tun bekommen. Es handelte sich um einen großen kräftigen Mann mit einer starken, dominanten Ausstrahlung – Hugh Peters, ein Feldgeistlicher im Heer des Parlaments. Strongworth saß neben ihm und schien auf der Hut zu sein. Peters nahm mich ernster und war offensichtlich besser informiert als die meisten, er unterzog mich geradezu einem Verhör über Dänemark und die dänischen Verhältnisse. In jenen Wochen hatte ich mir das Gehirn zermartert, um mich an alles über Christian IV. und die Zeit danach zu erinnern; viel war mir nicht eingefallen, aber von Hugh Peters fühlte ich mich provoziert und so berichtete ich das meiste. Um einen Trumpf zu landen, erzählte ich ihm, dass König Christian nächstes Jahr sterben und sein Sohn Frederik III. ihm auf dem Thron folgen werde, außerdem würde Dänemark bald einen Krieg mit Schweden beginnen und seine dominierende Position im Norden verlieren. Und wenn Peters von einem Mann namens Corfitz Ulfeldt gehört hätte, dann sollte er wissen, dass dieser Mann sich als ein Verräter erweisen würde.

      »Ulfeldt? The Lord Senechal?«, fragte Peters und hob die Augenbrauen. Ich konnte mich nicht mehr an Ulfeldts Titel erinnern, aber der Name war offenbar bekannt und die Information hinterließ Eindruck. Ich bestätigte es.

      Peters


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