Der Meermann. Niels Brunse
die hier standen, hatte man aus Treibholz und irgendwelchen Brettern gebaut; die Hälfte einer Hütte bestand aus zwei halben ausrangierten Booten, die offenbar durchgesägt und hochkant gegeneinander gestellt waren, so dass sich die zusammengefügten Vordersteven wie eine sonderbar recycelte Kuppel zum Himmel reckten. Auf dem Meer waren lediglich ein paar Fischerboote zu sehen, keine großen Schiffe; es gab keine Kondensstreifen am Himmel und keine Hochspannungsmasten am Horizont, nur einen viereckigen Kirchturm, der in der Ferne aufragte. Und so sehr ich auch mit der größten Anspannung und Aufmerksamkeit lauschte, ich konnte nichts hören, das auch nur annähernd an den Verkehrslärm einer Straße oder an eine Eisenbahn erinnerte. Weit entfernt muhte eine Kuh, dann und wann hörte ich einen Vogelschrei und das Summen von Fliegen und Bienen – sonst nichts. Die Landschaft atmete Frieden, unheilverkündenden Frieden.
Ich ging zu den Menschen am Strand. Sie hielten mit ihrer Arbeit inne und blickten auf; die Weidenkörbe waren beinahe leer.
»Entschuldigung«, sagte ich, »aber welchen Tag haben wir heute?«
»Mittwoch«, antwortete John.
»Ja gut, und welches Datum?«, präzisierte ich.
»Datum? Den Tag im Jahr? Es muss der …« John dachte nach. »Der zwölfte Juni, möchte ich meinen.«
Ich musste schlucken. »Und welches Jahr?«
Sie schauten sich an, als wäre es unbegreiflich, dass ich so etwas fragte. Dann antwortete John: »Sechzehnhundertsiebenundvierzig.«
Ich drehte mich um und ging. Ich brachte kein Wort heraus.
Planlos lief ich am Strand auf und ab, mehrere Stunden lang. Eine innere Lähmung hatte all meine Freude verdrängt. Wenn Johns Angaben richtig waren – und ich hatte unbedingt das Gefühl, dass er die Wahrheit sagte –, dann musste ich versuchen, es zu begreifen, nur wollte es mir nicht gelingen; mein Verstand stellte sich quer und mein Herz klopfte panisch. Schließlich entschied ich mich, nach der Gegenwart wie nach dem einzig vorhandenen Strohhalm zu greifen und zum Fischerdorf zurückzugehen.
Zwei weitere Boote waren gelandet und außer Meg säuberten nun sechs Männer und zwei Frauen auf dem Bohlentisch die Fische. John und Jock hatten ihre Netze auf einem kleinen Trockenplatz hinter dem Haus aufgehängt und bearbeiteten sie mit ein paar merkwürdig krummen Werkzeugen, deren Funktion sich mir nicht erschloss. Als ich mich den Booten näherte, richteten die Fischer sich auf und Meg sagte: »Das ist er.« Ich ging davon aus, dass inzwischen alle die Geschichte meiner Rettung gehört hatten. Meg von John, und die anderen sicherlich von ihr.
Ich grüßte mit einem stummen Kopfnicken und fragte, ob ich behilflich sein könnte. Sie akzeptierten, denn es war ein heißer Tag, wie einer von ihnen sagte, und der Fisch musste eingesalzen werden, bevor er schlecht wurde. Viel mehr Worte wurden nicht gemacht. Ich empfand eine gewisse Befriedigung, als ich ein paar volle Fässer in einen Schuppen hinauftrug, in dem bereits eine Reihe von Fässern stand. Sie waren schwer, aber ich konnte sie problemlos auf dem Rücken tragen, und die Männer warfen mir anerkennende Blicke zu.
Aus diesen Menschen, zu denen noch zwei kleine Kinder gehörten, die in den Hütten geschlafen hatten, bestand die gesamte Bevölkerung des kleinen Fleckens. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie die anderen hießen, aber John, Jock, Will, Meg und der sommersprossige kleine Harry haben sich unauslöschlich in meine Erinnerung eingebrannt. Sie waren die ersten Menschen, denen ich nach meinem verstörenden Sprung durch die Zeit begegnete; sie nahmen mich freundlich auf, obwohl ich mich bei ihnen in keiner Weise revanchieren konnte.
Später, als wir eine sehr einfache Mahlzeit aus gekochtem Fisch und Brot gegessen hatten, erschienen die anderen in der Hütte von John und Meg; die Luft vibrierte geradezu vor Neugierde. Die Arbeit lag hinter ihnen, nun sollte der merkwürdige Fremde erzählen.
Sie nickten, als ich berichtete, dass ich aus einem Land namens Dänemark käme. Sie kannten es gut, es lag auf der anderen Seite des Meeres. Nicht dass sie je dort gewesen wären, aber sie wussten, dass es Dänemark gab. Allmählich verstand ich ihre Aussprache immer besser. Den größten Teil der Zeit hörten sie zu, aber sie stellten auch Fragen, und ich versuchte, mich an Informationen zu halten, die sowohl für die Vergangenheit wie die Gegenwart galten – oder für die Gegenwart und die Zukunft, denn welche »Gegenwart« sollte ich wählen? Ich zermarterte mein Hirn, um ihnen nicht irgendetwas zu erzählen, mit dem ich dieses Erstaunen hervorrief, das nur ein weiterer Beweis dafür gewesen wäre, dass meine bangen Ahnungen Wirklichkeit waren. Aber als sie fragten, wie unser König heiße, musste ich mich entscheiden. Christian, sagte ich, und das war gleichsam der erste Schritt über eine gefährliche Schwelle.
Christian IV. starb 1648 – ich erinnerte mich an ein Buch, das wir neulich in unserem Programm am Samstag verwendet hatten. Er war also noch König. Im Übrigen erschien mir mein historisches Wissen als ein gähnend leeres Loch, aus dem ich keine Hilfe erwarten durfte. Hastig fuhr ich fort, von Kopenhagen zu erzählen, einer großen Stadt mit hübschen Kirchen und vielen Schiffen im Hafen. Ich berichtete von einem großen Schloss, von dem aus das Land regiert wurde, und einem schönen kleinen Schloss, das Rosenborg hieß und in einem Park lag. Sie hörten eifrig und aufmerksam zu und ich hatte das Gefühl, ich hätte ihnen erzählen können, was ich wollte; und doch waren sie in diesem Augenblick meine einzige Hoffnung und ich wollte sie nicht vor den Kopf stoßen, indem ich irgendetwas erwähnte, das sie als Hirngespinst oder Teufelswerk auffassen mussten.
Von ihnen erfuhr ich, dass ihr Fischerlager keinen eigenen Namen hatte, das ein Stück landeinwärts liegende Dorf aber Winterton hieß. Dort gäbe es eine Kirche, eine Schmiede und ein Wirtshaus. Dann fragten sie unermüdlich weiter, sie wollten wissen, wie ich hierhergekommen war, und ich erklärte, dass mein Boot plötzlich gesunken sei. Also ein Schiffbrüchiger, stellten sie mit gewichtigem Nicken fest, als ob für sie dadurch irgendetwas klarer würde. Und dann fragten sie, ob ich Frau und Kinder und Eltern hätte. Schließlich hatte mich mein mentaler Balanceakt so erschöpft, dass sich meine Zunge verknotete und ich nach den gewöhnlichsten Vokabeln suchte.
»Er ist müde«, sagte Meg umsichtig. »Lasst ihn jetzt schlafen.«
John bot mir eine der Bettstellen an, sie selbst wollten zu dritt in dem anderen Bett schlafen, aber ich entgegnete, es wäre ein zu großer Umstand und ich würde gern draußen schlafen. Es geschah nicht nur aus Höflichkeit – in der Hütte stand die Luft, es roch nach Fisch, schweißigen Körpern und ungewaschenen Kleidern. Nach ein paar weiteren freundlichen Aufforderungen gingen sie schließlich auf mein Angebot ein und ich bekam ein Stück Persenning, in das ich mich einrollen konnte und einen Wollpullover, um ihn mir unter den Kopf zu legen.
In der Nähe der Hütte fand ich eine Mulde zwischen den Dünen, in der der Sand noch warm war. Es war längst noch nicht dunkel, aber ich schlief auf der Stelle ein – und erwachte einige Stunden später, wie ich aufgrund des schwindenden Lichts vermutete. In den Hütten war es still, der leichte Wind hatte sich völlig gelegt, und ich lag sehr lange wach, sah auf zu den Sternen, die am diesigen Himmel schwach leuchteten, und dachte darüber nach, was geschehen war.
Am frühen Montagmorgen des 6. Juni 2005 war ich bei schönem Wetter mit meiner Fidelio aus Skagen losgesegelt, obwohl der Wind nicht ganz günstig stand, aber ich hatte reichlich Proviant und freute mich auf meinen ersten Einhand-Törn über die Nordsee. Mein Ziel war einer der Häfen an der englischen Ostküste, Grimsby, Lowestoft, je nachdem, wie es sich mit Wind und Wetter ergab. Ich rechnete damit, dass die Überfahrt einige Tage dauern würde. Die Fidelio war genau das richtige Boot für solch eine Tour, eine schwere zweiundzwanzig Fuß lange Hurley mit langem Kiel und so stabil, dass ich es allein laufen lassen konnte, wenn ich schlief. Ich hatte die Einhandsegelei ein wenig trainiert und wusste, dass ich mit jeweils drei, vier Stunden leichtem Schlaf auskommen würde, um mich dann im Hafen auszuruhen. Wie einer meiner Freunde sagte, lautet die Grundregel bei tagelangem Einhandsegelns: »Setz die Segel, bind die Pinne fest, schlaf wenig und hoffe das Beste.«
Von England aus wollte ich eventuell einen Abstecher an die französische Küste unternehmen. Es sollten meine Ferien sein. Ich hatte in diesem Jahr früh Urlaub genommen und fing an, mich zu erholen, zumal die beiden ersten Etappen von Kastrup nach Mølle und weiter nach Skagen gut gelaufen waren. Und hinter