Der Meermann. Niels Brunse
wäre ich wohl zu der Überzeugung gelang, dass es sich bei den beiden Vorfällen, die sich Ende September dicht nacheinander ereigneten, genau darum gehandelt haben musste. Eines Tages auf dem Rückweg von der Weide, auf die ich die Kühe getrieben hatte – ich hatte es inzwischen gelernt und brauchte die Hilfe der Magd nicht mehr –, erlaubte ich mir, ein bisschen auf der Landstraße nach Norden zu wandern, einfach so, ohne die Absicht davonzulaufen. Ich war völlig allein und sah plötzlich auf der Straße ein Bündel liegen. Es erwies sich als ein schwerer Leinenbeutel, in dem es klimperte, als ich ihn aufhob. Er enthielt einige Dutzend große glänzende Kupfernägel. Ich konnte es mir nur so erklären, dass der Beutel von einem Wagen oder einem Pferd gefallen sein musste und der Eigentümer längst weit weg war. Ich nahm den Beutel an mich und legte ihn in meine kleine Kiste im Stall. Am nächsten Sonntag brachte ich ihn den Fischern mit, zunächst um sie zu fragen, ob die Nägel etwas wert wären und ich sie verkaufen könnte, um so zum ersten Mal etwas Geld in den Händen zu haben, aber auf dem Weg zum Strand wuchs in mir die Überzeugung, dass ich ihnen die Nägel eigentlich schenken müsste, als Gegenleistung für alles, was sie für mich getan hatten.
Sie freuten sich sehr über mein Geschenk und erklärten, dass sie genau solche Nägel bräuchten, um ihre Boote zu reparieren. Ihre Freude bewies, dass die Nägel ziemlich wertvoll sein mussten, wenigstens für arme Leute, und beinahe bedauerte ich, nicht um Geld dafür gebeten zu haben. Aber ein Geschenk ist ein Geschenk und schließlich hatten sie mir das Leben gerettet, also konnte ich doch nicht einen Beutel Nägel zwischen uns kommen lassen, dachte ich beschämt.
In der Woche darauf wurde das Wetter herbstlicher und eine ganze Nacht lang heulte der Wind durch die Ritzen und schiefen Luken des Stalles. Es herrschte auflandiger Wind und ich lag wach und stellte mir vor, wie es am Strand aussehen musste: Die Dunkelheit, der aufwirbelnde Sand und die weißen Schaumzähne auf dem Meer nahe den Hütten, wo man die Boote über Nacht bestimmt besonders hoch auf den Strand gezogen hatte.
Als ich am Sonntag zusammen mit dem Pastor und seinem Hausstand in die Kirche ging, sah ich John und Jock in einer kleinen Gruppe von Menschen, die vor der Tür auf jemanden warteten. Sie warteten auf mich, und als wir uns begrüßt hatten und der Pastor mit seinem Gefolge hineingegangen war, flüsterte Jock mir zu: »Wir haben am Strand ein Boot gefunden. Möglicherweise ist es deins.«
An diesem Tag hörte ich nicht richtig zu, weder den Gebeten noch der Predigt. Die ganze Zeit kreisten meine Gedanken um das Boot, um die unwahrscheinliche Möglichkeit, dass es nach mehreren Monaten wieder aufgetaucht sein sollte, um die vielversprechenden Perspektiven, die sich eröffneten, wenn es tatsächlich mein Boot sein sollte. Und nachdem ich wie gewöhnlich im Pfarrhaus gegessen hatte, konnte ich gar nicht schnell genug aufbrechen.
John und Jock begleiteten mich, wir gingen eine gute halbe Stunde am Strand in nördliche Richtung. Schon von Weitem sah ich das Boot – und wusste, dass es nicht meins war. Kein weißer Glasfieberrumpf, kein Glitzern von blankem Metall, sondern eine geteerte Holzjolle wie ihre, nur kleiner und ein wenig anders in den Linien. Das Boot lag am Strand auf der Seite und es zeigte sich, dass an einer Bordwand einige der oberen Planken zerbrochen und beschädigt waren. Das Ruder fehlte und der Mast war knapp zwei Meter über dem Mastfuß gebrochen. Vom Segel gab es keine Spur und abgesehen von ein paar ausgefransten Tauenden war auch das Rigg verschwunden.
»Das ist nicht mein Boot«, sagte ich und konnte meine Enttäuschung kaum zurückhalten.
»Jetzt ist es deins«, sagte John. »Lass es uns instand setzen, dann kannst du damit nach London segeln.«
»Aber …«, wandte ich ein.
»Wir helfen dir«, versprach John.
Zusammen schleppten wir die Jolle in ein Versteck zwischen den Dünen und Jock verwischte die Schleifspuren mit einem großen Büschel Strandhafer, das er mit bloßen Händen ausriss; ich hätte es nicht tun können, ohne mich an den scharfen Blättern zu schneiden. In den folgenden Tagen brachte ich alle möglichen Entschuldigungen vor, um den Pfarrhof möglichst früh verlassen zu können und zum Strand zu gehen, und meine Fischerfreunde transportierten inzwischen in ihrem Boot Werkzeug, einen Eimer Teer und etwas Treibholz in das Versteck.
Tag für Tag wurde der havarierte Rumpf einem seetüchtigen Boot ähnlicher. Die beschädigte Bordwand wurde mit Brettern repariert, die eigentlich nicht zu den übrigen Planken passten, das Stück einer rot gestrichenen Tür, die passender Weise noch mit einem Scharnier versehen war, ließ sich als Ruder verwenden, und ein Riemen mit zerbrochenem Ruderblatt wurde abgesägt und zum Mastbaum ernannt. John hatte ein kleines dreieckiges Segel aus dem Stück Persenning genäht, unter dem ich in der ersten Nacht geschlafen hatte. Als schwierigstes Problem erwies sich der Mast. Will, der uns in den letzten Tagen geholfen hatte, stieg auf eine der flachen Dünen und hielt Ausschau.
»Lasst uns einen Baum fällen«, schlug er vor, als er zurückkam. Er hatte weit entfernt in der einsamen Landschaft eine Stelle gefunden, an der einige junge Pappeln standen, wahrscheinlich am Rand eines Wasserlaufs.
»Frisches Holz? Du musst verrückt sein«, sagte Jock.
»Was anderes haben wir nicht«, erwiderte Will.
Sie sahen mich an und ich nickte. Es kostete uns einige Stunden, um dorthin zu gelangen, den geradesten der schlanken Bäume zu fällen, ihn zu entrinden und zuzusägen – und ihn dann durch das sumpfige Gelände zurückzutragen, praktisch von einem kleinen Erdhügel zum nächsten. Doch als es dämmerte, stand der Mast, weiß, neu und sachkundig im Kielschwein verzapft. Jock umfasste ihn mit beiden Händen und versuchte ihn zu verdrehen. Er bewegte sich nicht.
»Das Rigg wird ihn schon halten«, meinte er.
Am nächsten Tag wurde das Boot getakelt – mit Vor- und Achterstag und Wanten an jeder Seite, alles aus zusammengebundenen alten Tauresten, die nicht einmal die gleiche Stärke hatten. Das Fall für das Segel bestand aus einem dünnen Hanfgarn, das doppelt geführt wurde. Das Boot war fertig. Der Anblick hätte jeden anständigen Bootsbauer zum Weinen gebracht – doch mein Herz klopfte vor Erwartung.
»Lassen wir es zu Wasser«, schlug John vor und zu viert schleppten wir das Boot hinaus, bis es genügend Wasser unter dem Kiel hatte. Es schwamm! Die Fischer brachten das Werkzeug an Bord ihres eigenen Bootes und wollten aufbrechen – doch Jock überlegte es sich anders. »Es ist besser, ich segele mit dir«, sagte er.
Wir legten ab. Ich saß wieder an der Ruderpinne eines Schiffes! Der Wind kam aus Südwest, so dass beide Boote kreuzen mussten, und ich stellte schon bald fest, dass wir nicht gerade ein Rennboot für mich gebaut hatten. Doch mit dem kleinen Segel ließ sich leicht manövrieren und der Pappelmast krümmte sich so graziös wie der Mast einer modernen Regattajolle, so dass das Boot sich beinahe selbst trimmte. Jock bemerkte es ebenfalls und schaute sich kopfschüttelnd und lachend den Mast an. Im Übrigen achtete er auf eventuelle Lecks; an vier, fünf Stellen sickerte Wasser ins Boot, aber nicht wirklich bedrohlich. Jock holte ein Büschel gerupftes Tauwerk aus der Tasche und stopfte es mit seinem Messer locker in die Ritzen.
»Ich bringe das morgen noch in Ordnung«, sagte er.
Einige Zeit nach John und Will erreichten wir das Fischerlager. Mein kleines Boot wurde neben die anderen gezogen und ich machte mich eilig auf den Weg zurück zum Pfarrhof. Ich musste die Kleiderkiste mitnehmen, wenn ich aufbrach, ich hatte eingesehen, dass ich alles benötigen würde, was überhaupt von irgendeinem Wert war. Außerdem brauchte ich Tageslicht und einigermaßen vernünftigen Wind.
Es war bereits dunkel, als ich zurückkam, doch im Studierzimmer des Pastors brannte noch Licht. Ich schlich in den Stall und tastete mich vor, aber er musste mich kommen gehört haben, denn kurz darauf stand er mit einem Kerzenhalter in der Hand in der Stalltür.
»Master John!«, rief er.
Ich ging zu ihm, bereits halb ausgezogen, nur in meiner Hose und mit nackten Füßen.
»Ich muss morgen nach Norwich und werde erst übermorgen zurück sein«, sagte er. »Auf dem Tisch liegen drei Bücher mit Lesezeichen, außerdem habe ich Papier und Feder bereitgelegt. Schreib wie gewöhnlich die Stellen für mich ab.«
»Ja, natürlich.«
Er