Der rätselhafte Doppelgänger - Kinder-Krimi. Kirsten Holst
in gute Laune.
Verdammte Scheiße, ist die schwer, dachte Anders bei sich, während er die schwere Kiste vor die Ladentür stellte und verschnaufte. Dreimal war er schon im Hafen gewesen, um die Waren zu holen, die mit der Fähre gekommen waren. Einmal zur Morgenfähre und zweimal zur Mittagsfähre. Zum Glück war das nun die letzte Kiste. Dafür aber auch die schwerste. Oder sie war nur deshalb schwerer, weil er langsam müde wurde. Er hätte sie fast nicht vom Transportrad herunterbekommen.
Ein alter, ramponierter Lieferwagen kam herangefahren und hielt neben ihm. Das war der Inselvogt.
„Hallo, Anders“, rief er durchs heruntergekurbelte Seitenfenster. „Ist dein Vater unterwegs und liefert aus?“
Anders warf ihm einen finsteren Blick zu. Idiotische Frage. Ob der Blödkopf dachte, er würde die halbe Fährenladung auf dem Fahrrad nach Hause manövrieren, wenn das Auto da wäre?
„Ja, wolltest du was von ihm?“ fragte er. „Er ist heute draußen bei den Sommerhäusern, da wird er nicht vor einer guten Stunde wieder hier sein. Es sind ja reichlich Gäste da draußen.“
„Ich wollte nur hören, ob er immer noch an einem der Welpen interessiert ist.“
Anders schüttelte den Kopf. „Er schon, aber Mutter nicht. Deshalb wird da nichts draus.“
„Hm“, der Inselvogt rieb sich das Kinn. „Du hast nicht zufällig den alten Alfred heute schon gesehen?“
Anders nickte. „Doch, heute morgen. Und als die Mittagsfähre gekommen ist, war er bestimmt auch im Hafen, das ist er ja immer. Aber ich bin erst etwas später gekommen, deshalb habe ich ihn nicht gesehen. Jetzt ist er wohl draußen am Turm. Da ist er immer um diese Uhrzeit. Er ist ja nicht ganz richtig im Kopf.“
„Na, na, Anders. Wir werden ja alle mal alt.“
„Ja, anzunehmen.“
„Und dann werden wir vielleicht auch etwas wunderlich.“ „Damit meinst du wohl dich“, murmelte Anders, während er sich über die Kiste beugte.
„Was hast du gesagt?“
„Ich habe gesagt, das kann schon sein.“
„Genau, und dann können wir nur hoffen, daß die Jüngeren uns mit Nachsicht behandeln“, fuhr der Inselvogt belehrend fort, aber seine Worte wurden von dem Lärm verschluckt, den ein kleines Flugzeug verursachte, das plötzlich direkt über ihnen auftauchte. Der Inselvogt und Anders traten automatisch zur Seite, und einen Augenblick später landete mit einem dumpfen Knall neben ihnen auf dem Fußweg ein Bündel Zeitungen.
Manette und Louis kamen in halsbrecherischer Fahrt ins Dorf geschlingert.
„Lenken, Louis, lenken!“ schrie Manette, als sie fast ein Auto streiften. Der Fahrer streckte einen Arm aus dem offenen Seitenfenster und winkte ihnen zu. „O Mann, das war der Inselvogt!“ rief sie.
„Dann spring schnell ab“, sagte Louis. „Sonst kriegen wir noch eine Strafe, weil wir zu zweit auf dem Fahrrad sind.“
„Das ist ihm total egal. Guck dir nur das Wrack an, mit dem er selbst rumfährt. Wir sind doch nicht in der Stadt, du Dummkopf!“
„Nein, aber er ist doch auch so eine Art Polizist, oder?“ überlegte Louis und drehte sich dabei zu Manette um.
„Louis, du Blödmann. Paß auf! Lenken! Nein, paß auf! Halt! Halt! Haaaaalt!“
Aber Manettes Warnung kam zu spät. Das Fahrrad raste durch eine niedrige Hecke direkt in einen Garten vor einem kleinen, verfallenen Haus und landete schließlich in ein paar traurigen Johannisbeersträuchern.
„Was bist du nur für ein Schafskopf“, rief Manette, während sie versuchte, in den Büschen wieder auf die Beine zu kommen. „Ich habe doch gesagt, du sollst aufpassen.“
„Ach, wenn schon“, grinste Louis. „Das sind doch nur die Johannisbeerbüsche vom blöden Alfred.“
„Du selbst bist blöd. Wir hätten uns den Hals brechen können.“
Sie hatten sich immer noch nicht aus den Büschen befreit, als Anders auf seinem Transportrad vorbeikam.
„Hallo! Ist es nicht noch ’n bißchen früh, um Johannisbeeren zu pflücken?“ rief er grinsend, hielt an und stellte einen Fuß auf den Boden.
„Halt bloß die Klappe! Das war Louis, der Trottel.“
„Kommt Stina heute?“ fragte Anders.
„Sie hat es jedenfalls geschrieben. Wenn sie die Fähre kriegen. Und das hoffe ich wirklich, sonst sterbe ich noch vor Langeweile.“
„Ich hoffe jedenfalls, daß auch noch andere Kinder kommen. Welche in meinem Alter. Sonst sterbe ich vor Langeweile“, sagte Louis voller Inbrunst.
„Ach, und ich dachte, daß du ganz wild auf Stina bist“, ärgerte Anders ihn.
„Quatsch“, Louis wand sich ein wenig. „Sie ist zwar echt witzig, aber sie ist doch ein bißchen alt – und außerdem ist sie ein Mädchen.“
Anders und Manette zwinkerten sich über Louis’ Kopf hinweg zu. Mit den Jahren würde auch er anders darüber denken. Dann fuhr Anders wieder los. „Wir sehen uns an der Fähre, ja?“
„Na logo. Wir sind da, wenn sie kommt. Falls sie kommt. Wir müssen nur erst noch nach Hause, was essen.“
„Dann müßt ihr aber einen anderen Gang einlegen. Es sind nur noch zwanzig Minuten, bis die Fähre kommt.“
„Zwanzig Minuten!“ schrie Manette und sprang auf den Gepäckträger des Fahrrads, das Louis inzwischen aus den Büschen hatte befreien können.
„Landegestell einfahren, Klappen schließen und Sicherheitsgurte anlegen“, rief Louis. „Wir starten!“
Nur wenige Minuten später kamen sie auf dem Campingplatz an. Dem Fahrrad war die Tour in die Johannisbeerbüsche nicht besonders gut bekommen. Sie stellten es am Ständer beim Gemeinschaftshaus ab und liefen zu ihrem Caravan. Dort duftete es schon intensiv nach Frikadellen, und Lis war fast fertig mit Tischdecken.
„Hallo Papa“, rief Louis schon von weitem, als er sah, daß Per am Wagenende stand und Angelzeug sortierte. „Du hast versprochen, mein Fahrrad zu flicken.“
„Das habe ich vergessen. Tut mir leid, entschuldige. Aber eigentlich solltest du langsam alt genug sein, so was selbst zu machen. So ein großer Junge von zehn Jahren.“
„Ja, aber du hast versprochen ...“
„Ja, ja, ja, ich werde es auch tun. Aber du guckst zumindest zu, wie ich es mache, damit du es nächstes Mal kannst“, sagte Per. Er wandte sich ihnen zu und zeigte triumphierend einen winzigen Fisch.
„Guckt mal, was ich gefangen habe!“
Manette bedachte ihren Vater und das Fischlein mit einem höhnischen Blick. Sie war keineswegs beeindruckt, aber Louis klatschte übertrieben begeistert in die Hände.
„Wow, Papa! Hast du den selbst gefangen? Ganz allein? Was du alles kannst!“
Per lachte geschmeichelt, während Louis bewundernd weitersprach: „Das ist bestimmt der größte Wattwurm, den ich jemals gesehen habe.“
„Wattwurm“, brauste Per auf. „Hat sich was mit Wattwurm, du kleine graue Milbe. Da steht dein alter Vater im Morgengrauen auf, um Nahrung für seine hungernden Kinder zu beschaffen, und dann ...“
„Nahrung!“ rief Manette empört. „Du glaubst doch nicht, daß wir dieses eklige Würmchen, das Selbstmord begangen hat, essen wollen? So hungrig sind wir nun auch wieder nicht.“ „Ich glaube, er hat den Köder mit nach Hause gebracht“, meinte Louis zu seiner Schwester.
„Lis!“ rief Per klagend. „Lis, weißt du, daß wir ganz undankbare und schlecht erzogene Kinder haben?“
„Ja. Merkst du das jetzt erst?“