Der rätselhafte Doppelgänger - Kinder-Krimi. Kirsten Holst
„Hast du Claes’ neuen Wohnwagen gesehen? Nicht schlecht, was? Das ist vielleicht ein Palast.“
„Der Palast hat wahrscheinlich eher Macht über den Mann als umgekehrt“, erwiderte Bengt trocken. Er schaute zu den Norwegern hinüber. „Und unsere norwegischen Brüder und Schwestern haben anscheinend über gar nichts Macht.“
Per drehte sich um und warf einen Blick aufs Schlachtfeld.
„Denen müssen wir wohl mal unter die Arme greifen“, meinte er.
Bengt schüttelte den Kopf und warf ihm einen trägen Blick zu. „Laß die arbeiten, die dazu geschaffen sind“, erwiderte er und gähnte. „Ich glaube, ich gehe lieber rein und hau’ mich für ’ne halbe Stunde aufs Ohr.“
„Das sieht dir ähnlich“, sagte Per mit leichtem Vorwurf in der Stimme.
„Stimmt“, grinste Bengt und verschwand in seinem Wohnmobil, während Per zu den Norwegern ging.
„Hallo“, sagte er. „Ich heiße Per. Braucht ihr Hilfe?“
Der Norweger sah erleichtert aus, obwohl es ihm auch ein wenig peinlich war. „Ja, hast du denn Ahnung von so was?“ fragte er.
„Ja, wir hatten selbst ein Zelt, ehe wir uns den Wohnwagen angeschafft haben“, erklärte Per, der bereits dabei war, Ordnung ins Chaos zu bringen.
„Wir machen es das erste Mal, aber wir haben zu Hause im Garten geübt“, sagte der Norweger. „Ich heiße übrigens Tore, und das ist Åse, meine Frau.“
Per nickte und drehte sich halb um. „Hey, Manette, kannst du nicht eben mal helfen?“ rief er über die Schulter.
Er erhielt keine Antwort und sah sich verblüfft um.
„Das ist ja komisch“, meinte er. „Sie waren doch gerade noch da.“
Aber Manette, Stina und Anders hatten es geschafft, sich unsichtbar zu machen. Sobald sie außer Hörweite waren, prusteten beide Mädchen los.
„Erst waren sie da und dann nicht mehr!“ lachte Stina. „Aber das war in letzter Sekunde!“
„Hab’ ich doch gesagt“, kicherte Manette, als sie endlich wieder Luft bekam, „nur gut, daß wir noch abhauen konnten, sonst hätten wir diesen blöden Norwegern noch helfen müssen.“
„Es fehlte nur noch, daß sie ihre Sicherheitshelme beim Zeltbau aufsetzen“, meinte Stina.
„Aber der Junge war eigentlich ganz süß“, sagte Manette nachdenklich.
„Mh, ja“, Stina nickte. „Ganz brauchbar.“
Anders schaute sie kopfschüttelnd an. „Habt ihr eigentlich nichts anderes im Kopf?“
„Als was?“ fragte Manette.
„Als Jungs!“
„Nee“, antwortete Stina, „du vielleicht?“
„Ich habe jedenfalls keine Jungs im Kopf“, schnaubte Anders.
„Da siehst du’s selbst“, nickte Manette.
„Was sehe ich?“
„Daß du an Mädchen denkst“, meinte Manette. Stina und sie fingen wieder an zu kichern. Anders warf ihnen einen resignierten Blick zu. „Oh, beim Jupiter, was seid ihr ...“ „Süß?“ unterbrach Stina ihn.
„Das wollte ich ja nicht gerade sagen.“
„Na, ich glaub’ schon.“ Manette sah ihn einschmeichelnd an. „Du bist doch ganz scharf auf uns, gib’s nur zu. Und wenn wir so süß sind, dann kannst du uns doch ein Eis spendieren.“ „Na gut, abgemacht. Aber nicht, weil ihr so süß seid, sondern weil ich so nett bin.“
Sie schlenderten durch das Dorf zum Laden. Dort bekam Anders das Eis gratis.
„Seid ihr über Varberg-Grenå gekommen?“ fragte Manette Stina.
„Nee, Göteborg-Kiel.“
Anders sah sie verblüfft an. „Das ist aber ein Umweg.“
„Ja, aber Bengt sollte da irgendwas besorgen. Und damit konnten wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, meinte er. Urlaub machen und irgendwelche Geschäfte erledigen. Was er so Ferien nennt. Er ist die ganze Zeit irgendwo rumgerannt, und ich saß zwei Tage lang mutterseelenallein im Hotel und habe vor mich hin geglotzt. Der Mann kann gar keine Ferien machen. Nur hier. Das sagt er selbst auch. Er behauptet, hier ist es so stinklangweilig. Deshalb ist das hier der einzige Ort der Welt, wo er sich entspannen kann. In Wahrheit kann er es nicht aushalten, einfach nur stillzusitzen.“
„Damit habe ich keine Schwierigkeiten“, grinste Manette. „Ich finde es wunderbar, einfach nur so herumzutrödeln. Aber meinen Eltern geht es ähnlich wie Bengt. Die ersten Urlaubstage finden sie sich überhaupt nicht zurecht. Sie meckern und schimpfen und schreien sich an, aber wenn dann ein paar Tage um sind, dann haben sie ihren Rhythmus gefunden, und dann läuft’s gut.“
„Oh, diese Erwachsenen!“ seufzte Stina und zuckte mit den Schultern.
„Hoffentlich werden wir nicht mal so, was?“
„Niemals!“ lachte Stina.
Während die Großen sich aus dem Staub gemacht hatten, war Louis unbemerkt auf den Platz der Norweger geschlichen. Er tat so, als sähe er das Mädchen überhaupt nicht, das sich ein wenig zurückgezogen hatte, aber als er endlich genügend Mut geschöpft hatte, um sie anzusehen, streckte sie ihm blitzschnell die Zunge raus. So schnell, daß Louis gar nicht sicher war, ob sie es wirklich getan hatte. Er wartete eine Weile, bevor er wieder zu ihr hinübersah, und jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Die dumme Göre stand wirklich da und streckte ihm die Zunge raus. Louis zog eine fürchterliche Grimasse, und das Mädchen machte auch eine. Louis ging etwas näher, wobei er noch schrecklichere Grimassen zog. Jedesmal, wenn das Mädchen die Zunge rausstreckte, machte Louis Fratzen. Aber als er fast bei ihr angekommen war, begannen beide gleichzeitig zu grinsen, und kurz darauf verschwanden sie zusammen in den Büschen und schlichen sich zum Strandweg.
„Wie heißt du?“ fragte das Mädchen.
„Louis. Und du?“
„Berit.“
„Wie lange bleibt ihr hier?“
„Vierzehn Tage, vielleicht auch drei Wochen.“
„Toll. Dann kann ich dir was zeigen.“
„Was denn?“
„Alles mögliche. Die ganze Insel.“ Louis breitete die Arme aus.
„Kennst du denn die ganze Insel?“
„Ja, klar. Pst!“ Louis zog Berit in die Hocke, so daß sie von den Büschen verdeckt waren.
„Was ist los?“
„Da“, sagte Louis nur und deutete auf den Weg.
Ein Stück von ihnen entfernt kam ein Mann den Strandweg mit einer Sense über der Schulter entlang. Jetzt, wo die Dunkelheit einsetzte, zeichnete sich seine Silhouette dunkel gegen den hellen Abendhimmel ab.
„Wer ist das?“ fragte Berit etwas unsicher.
Louis sah sie mit großen Augen an und sprach mit tiefer Stimme: „Das ist der Sensenmann! Das ist der Tod, der unterwegs ist, um ...“
Berit erschauerte. „Iih, sag nicht so was. Das ... das ist so unheimlich.“
Sie kroch unruhig weiter ins Gebüsch, als der Mann mit der Sense näher kam.
Louis war so begeistert von sich selbst und dem Eindruck, den er auf sie gemacht hatte, daß er am liebsten seinen Spaß weitergetrieben hätte, aber nichtsdestotrotz wollte er ihr nicht zuviel Angst einjagen, deshalb grinste er beruhigend: „Nein, das stimmt nicht. Das ist nur einer der Ferienhausbesitzer, der beim blöden Alfred war, um seine Sense schleifen zu lassen.“
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