Sieger über das Dunkel. Liane Sanden
sie auch keinen Beruf. Früher heirateten sie eben. Und damit war alles in Ordnung.“
„Ja, Herr Geheimrat, auch darin ist es heute anders. Heutzutage heiratet ein junges Mädchen doch nur, wenn sein Herz spricht. Das Leben ist eben anders geworden. In Ihrem Berufsleben doch auch. Glauben Sie nicht, dass auch die Frauen sich ändern, im Laufe der Zeit sich anders entwickeln?“
„Sie mögen recht haben, Herr Doktor. Man kommt gar nicht recht dazu, darüber nachzudenken vor lauter beruflichen Sorgen. Was machen wir aber praktisch mit meiner Tochter? Ich hatte ihr eine Reise vorgeschlagen. Aber sie brach bei dem Gedanken in Tränen aus. Sie will offenbar nicht von hier weg.“
Dr. Veldtens Gedanken gingen wieder zu Gerhard Hessenbrock. Vielleicht war auch der der Grund von Annelores Weigerung, fortzureisen. Aber er hielt sich nicht befugt, eine solche vage Vermutung dem Geheimrat mitzuteilen. So meinte er denn:
„Wenn Fräulein Annelore hier bleiben will, so halte ich es für richtiger, ihr nachzugeben. Eine Reise können wir uns immer noch aufsparen, wenn wir sehen, dass ihr Zustand sich nicht bessert. Vorläufig möchte ich ein paar Höhensonnebestrahlungen vorschlagen, die ich morgen beginnen will. Dann werden wir weitersehen.“
Der Geheimrat war einverstanden. Und Veldten unterrichtete Annelore von dem, was er beabsichtigte. „Seien Sie bitte heute nachmittag um fünf Uhr bei mir, gnädiges Fräulein“, sagte er, „ich werde Sie vor und nach den Bestrahlungen sehen. Die Behandlung selbst übernimmt meine Assistentin, nämlich meine Frau. Aber vorweg muss ich Ihnen eins sagen. Sie sind nicht krank, Fräulein Werffen. Ihnen fehlt nur der Wille, gesund zu sein. Ohne die Hilfe des Patienten aber kann der Arzt nur sehr wenig tun. Sie müssen helfen. Sie müssen frisch werden wollen. Wir werden schon herausbekommen, woran es liegt, dass Sie nicht wollen. Wenn der Wille zur Gesundheit dauernd fehlt, kann der Mensch krank werden. Das werden Sie Ihrem Vater nicht antun! Wenn also nicht um Ihrer selbst willen, dann wollen Sie um Ihres Vaters willen!“
*
Punkt fünf Uhr trat Annelore in das Wartezimmer Dr. Veldtens. Eine Minute später kam Frau Brigitte in einer grossen weissen Schwesternschürze.
„Fräulein Werffen? Oh, ich kenne Sie schon durch Ihren Vetter, unsern lieben Freund.“
Ihre Augen sahen herzlich in das blasse Mädchengesicht. Und Annelore erwiderte nach scheuem Aufblick diesen Blick strahlend. Im ersten Augenblick fasste sie Vertrauen zu dieser jungen, blühenden Frau mit den warmen, braunen Augen und der klugen Stirn.
„Also kommen Sie, Fräulein Werffen“, sagte Frau Dr. Veldten, „mein Mann hat mich schon über alles orientiert. Bitte machen Sie sich frei und legen Sie sich hier auf das Sofa unter die Lampe. Liegen Sie bequem? Hier, bitte, die Schutzbrille.“
Nachdem Brigitte Veldten Annelore gebettet hatte, schaltete sie die Lampe an und machte sich vorher selbst die Schutzbrille über die Augen. „So, Fräulein Veldten, und nun wollen wir die paar Minuten zu einem recht netten Plausch benutzen. Wir wollen doch nicht wie die Ölgötzen stumm dasitzen. Erzählen Sie mir einmal etwas recht Vergnügtes aus der letzten Zeit. Oder bin ich alte Frau für Sie eine grässliche Respektsperson, mit der man nicht frei vom Herzen weg reden kann?“
Annelore musste lachen:
„Sie sind doch keine alte Frau, Frau Doktor.“
„O bitte, Fräulein Werffen, ich bin ja schon sooo lange verheiratet“, lachte Frau Brigitte, „schon über ein halbes Jahr.“
Annelore lachte noch lauter:
„Das ist ja entsetzlich lange! Da müsste ich ja eigentlich tatsächlich einen ungeheuren Respekt vor Ihnen haben. Aber ich habe ihn wirklich nicht, denn Sie sehen trotz der langen Ehe aus, wie ein ganz junges Mädel. Ich könnte schon Vertrauen zu Ihnen haben, Frau Doktor.“
„Das ist ein gutes Wort, Fräulein Annelore. Also, dann erzählen Sie mal. Wie leben Sie so?“
Annelore schwieg einen Augenblick. Die alte Scheu wollte sie wieder überkommen. Aber die Stimme Frau Brigittes hatte etwas so Weiches, dunkel Beschwichtigendes, dass Annelore ganz warm ums Herz wurde. Die Sehnsucht, von sich zu sprechen, wurde übermächtig.
„Einsam lebe ich, Frau Doktor. Meine einzige Freundin ist in Genf in Pension und weibliche Verwandte habe ich gar nicht. Ich habe nur den Vater und meinen Vetter — das heisst, den habe ich ja auch gar nicht“, fügte sie schnell hinzu. Etwas Wehes lag in ihrem Ton.
Ganz zart strich Frau Brigitte über Annelores weiches Haar.
„Aber Kindchen, haben Sie denn gar keine Frau in Ihrer Nähe, mit der Sie sich mal richtig ausplaudern können?“
Es klang wie ein Schluchzen, als Annelore antwortete:
„Ach nein, das ist es ja eben. Ich bin immer allein. Papa ist ja reizend zu mir, aber der steckt doch den ganzen Tag im Werk. Manchmal sehnt man sich direkt nach einem Menschen, und dann dehnt sich der Tag bis ins Endlose.“
Wieder strich Frau Brigitte zärtlich über Annelores Kopf. Aber ihre Hand kam nicht weit. Zaghaft tastete Annelores Hand nach Brigittes Fingern.
„Sehen Sie, Frau Doktor“, jetzt unterdrückte sie ein Schluchzen, „das erlebe ich heute zum erstenmal, dass eine Frau mir so über den Kopf streicht.“
Mit einer schnellen Bewegung stellte Frau Brigitte die Lampe ab. Dann umfasste sie das schluchzende Mädchen.
„Aber Kindchen, liebes, wenn Sie wirklich so allein sind, kommen Sie in Zukunft zu mir! Wir werden gute Freunde werden. Wenn mein Mann unterwegs ist, dann bin ich auch allein. Aber ich hab’ zu tun. Wissen Sie was, Fräulein Annelore, wenn ich zu tun habe, dann helfen Sie mir. Und wenn Sie es gut machen, dann bekommen Sie zur Belohnung einen schönen Kuss. So. Hier haben Sie einen auf Vorschuss!“
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