Sieger über das Dunkel. Liane Sanden

Sieger über das Dunkel - Liane Sanden


Скачать книгу
schwieg sich sowohl Heinz wie der Geheimrat aus. So sandte denn Kommerzienrat Mühlensiefen einen Brief an seinen Sohn, den Heinz eines Morgens erhielt. Nach Mitteilungen über den geschäftlichen Zustand der Fabriken schrieb Kommerzienrat Mühlensiefen:

      „Ich bedaure, mein Junge, dass Du Deine mir genügend bekannte Schreibfaulheit immer noch beibehältst. Vor allen Dingen hast Du mir noch gar nichts über Deinen Verkehr bei Werffens berichtet. Vergiss nicht, dass Du als künftiger Inhaber unserer Firma Beziehungen pflegen musst. Du weisst doch, dass ich Veranlassung habe, Geheimrat Werffen besonders dankbar zu sein, der sich in einem kritischen Moment mit dem ganzen Gewicht seiner Person für mich eingesetzt hat. — Wie hat sich denn eigentlich seine Tochter Annelore entwickelt? Ich habe sie als auffallend hübsches Kind in Erinnerung, das mir immer etwas bedrückt schien. Solche Menschen sind für Herzlichkeit doppelt dankbar! Grüsse den Geheimrat und Annelore von mir, wenn Du wieder bei ihnen bist. Mit bestem Gruss

      Dein Vater.“

      Heut schien es Mühlensiefen im Werk wieder zum Auswachsen langweilig. Missmutig sah er auf die Papiere, die der Prokurist ihm zur Bearbeitung übergeben hatte. Es war eine Rückfrage notwendig. Mühlensiefen wollte sich etwas Abwechslung verschaffen und ging deshalb selbst in die Filmabteilung hinüber, statt einfach zu telefonieren. Im Treppenhaus begegnete er Fränze Müller, seiner netten Bekannten aus der Untergrundbahn. An die hatte er gar nicht mehr gedacht. Das war ein munterer kleiner Kerl. Ein netter Zeitvertreib, solange Lou nicht da war.

      „Sehe ich Sie endlich mal wieder, Fräulein Müller? Ich habe mich immerfort schon nach Ihnen umgesehen.“

      „Ach, das tut mir aber leid“, sagte Fränze Müller spöttisch lachend. „Dass es solche Einrichtungen wie Post und Fernsprecher gibt, ist Ihnen wohl bisher noch gar nicht aufgefallen, Herr Doktor? Und dass Sie Ihre Wette verloren haben, auch nicht?“

      „Um Gottes willen, machen Sie’s nur gnädig. Mit einem armen verlassenen Junggesellen darf man nicht so scharf ins Zeug gehen. Aber ins Kino darf man mit ihm gehen.“

      „Darüber liesse sich reden, Herr Doktor. Natürlich nur, wenn Sie versprechen, schön brav zu sein.“

      „Unerhört brav, Fräulein Müller. Ich bin bereit es zu beschwören.“

      „Nee, schwören Sie lieber nicht. Wohin wollen Sie mich denn einladen?“

      „Wohin Sie wollen, wenn wir nur dann noch gemütlich ein Glas Wein trinken gehen.“

      „Gegen diese Verbesserung des Abendprogramms habe ich nichts Grundsätzliches einzuwenden. Jetzt muss ich aber weiter.“

      „Um 7 Uhr am Alsterpavillon, Fräulein Fränze?“ Vergnügt lächelnd setzte Mühlensiefen seinen Weg fort. Glück gehabt, dachte er. Das Mädel hat etwas Prickelndes an sich. Mosseux? Nein, das war die kleine Müller nicht. Aber ein spritziger, leichter Rheinwein!

      *

      Seit dem letzten Spaziergang mit ihrem Vetter hatte Annelore Gerhard kaum noch zu Gesicht bekommen. Wenn sie ihn einmal traf, so war er immer, wie er sagte, ausserordentlich mit seiner neuen Erfindung beschäftigt. Er machte dann das sogenannte „Arbeitsgesicht“, wie sie es schon vom Vater her kannte und vor dem sie etwas Bangigkeit empfand. Es war so eine gewisse Falte in der Stirn und ein Abwesendsein, das man selbst unter der Liebenswürdigkeit sehr deutlich spürte. Da war es besser, Gerhard nicht mit sich selbst zu belästigen. Man konnte ihm ja auch nicht viel sagen. Denn diese eigentümliche Befangenheit ihm gegenüber wuchs mehr und mehr. Dazu kam ein gewisses Trotzgefühl. Wenn eben Gerhard um seiner Arbeit willen alles andere vergass und gar nicht mehr daran dachte, ob sie ihn brauchte oder nicht, dann wollte sie sich ihm nicht aufdrängen. Aber weh tat es, sehr weh! Wie allein sie doch war!

      Immer weniger gelang es ihr, die Interessen ihrer Freundinnen zu teilen, um so mehr, als ihre Lieblingsfreundin Dorothee in einer Pension in Genf weilte. Immer weniger, das oberflächlich-vergnügte Leben der jungen Mädchen ihrer Kreise mitzumachen. In die Gesellschaftsschicht des Geheimrats Werffen war die Not und Sorge, der jetzigen Zeit bis an die Töchter noch nicht herangekommen. Die Männer freilich spürten allenthalben die Unsicherheit der gesamten Wirtschaftsverhältnisse. Und in einem Hause, in dem die Frau und Mutter Mittelpunkt war, mochte es wohl sein, dass man diese Sorgen auch von der Frau mit tragen liess. Bei Werffens aber hütete der Geheimrat sich ängstlich, seine Annelore mit irgend etwas zu beschweren. Auch die Freundinnen aus der Schulzeit lebten glücklich und sorglos dahin. Nur Annelore war innerlich weder glücklich, noch sorglos. Sie sprach nicht von sich. Nur, sie sah sehr blass aus. Etwas Müdes lag auf dem schmal gewordenen Gesichtchen. Sogar der Geheimrat bemerkte es, trotzdem er, in den neuen Unternehmungen beschäftigt, für alles Ausserberufliche wenig Aufmerksamkeit hatte.

      „Fehlt dir etwas, Kind?“ hatte er beim Abendbrot gefragt. „Du siehst so schlecht aus. Brauchst du Zerstreuung? Ich sehe jetzt so selten deine Freundinnen bei dir. Lade sie dir doch ein. Oder willst du reisen? Ich hörte gestern von Senator Stübbe, dass er seine Familie für ein paar Wochen an die Riviera schicken will. Du brauchst nur ein Wort zu sagen und ich bitte Frau Stübbe, dich mitzunehmen. Sie wird es sicher gern tun. Ich glaube, du hast Luftveränderung nötig.“

      „Nein, nein“, hatte Annelore entschieden gesagt und den Vater flehend angesehen, „ich brauche nichts. Ich bin ganz gesund. Mir fehlt nur —“

      Aber sie hatte nicht zu Ende gesprochen, was ihr fehlte. Plötzlich war sie vom Tisch geflohen und tränenüberströmt in ihr Zimmer gelaufen.

      Kopfschüttelnd und ernstlich besorgt hatte der Geheimrat seiner einzigen nachgesehen. Noch am selben Abend rief er den alten Hausarzt, Sanitätsrat Brambach, an, um seinen Besuch zu erbitten. Aber unglückseligerweise musste Dr. Brambach am nächsten Morgen zu einer Familienfeier verreisen. Er schlug seinen Vertreter Dr. Veldten vor:

      „Nehmen Sie Veldten, lieber Geheimrat“, sagte er, „er wohnt in Ihrer Nähe. Ich kenne ihn genau. Denn er hat eine Zeitlang bei mir gearbeitet. Er ist tüchtig und modern. Er will vor allem, genau wie ich es tue, nicht die Krankheit, sondern den Menschen heilen. Ich habe die Überzeugung, er hat die richtige Art für unsere kleine Annelore.“

      Am nächsten Tage wurde Dr. Fritz Veldten in die Villa Werffen gerufen. Brambachs Empfehlung erfreute ihn sehr. Geheimrat Werffen selbst führte Veldten in Annelores Zimmer.

      Mit müdem Gesicht reichte Annelore Dr. Veldten die Hand, der herzlich sagte:

      „Gnädiges Fräulein, wir, das heisst meine Frau und ich, haben schon oft von Ihnen gehört, Ihr Vetter, Gerhard Hessenbrock, mein liebster Jugendfreund, hat uns schon sehr oft von einer Kusine Annelore erzählt.“

      Annelores Gesicht wurde lebhafter. „Ach Gerhard“, sagte sie und verstummte dann sofort. Dr. Veldtens Blick streifte Annelore kurz. Ihm war die plötzliche Lebhaftigkeit Annelores bei der Nennung von Gerhard Hessenbrocks Namen nicht entgangen und ebenso nicht ihr plötzlich verlegenes Verstummen.

      „Aha“, dachte er, „sollte ich schon auf den Kern der Krankheit gekommen sein? Vielleicht hat dies kleine Mädel einen Herzenskummer, der sich im Körper auswirkt.“ Jedenfalls fühlte er, er hatte Annelores Vertrauen einfach durch die Tatsache seiner Freundschaft mit Gerhard Hessenbrock gewonnen. Freiwillig gab Annelore ihm auf seine vorsichtigen Fragen Auskunft und liess sich willig untersuchen.

      Im Nebenzimmer wartete Geheimrat Werffen. Bald kam Dr. Veldten wieder herein.

      „Haben Sie bei meinem Kinde etwas feststellen können, Herr Doktor. Ist es etwas Ernstes?“

      „Keinerlei Grund zur Beunruhigung, Herr Geheimrat. Organisch ist bei Ihrem Fräulein Tochter alles in Ordnung. Ich habe den Eindruck, dass Ihr Fräulein Tochter von irgend etwas bedrückt ist.“

      „Aber wovon denn“, fragte der Geheimrat erstaunt, „sie hat doch alles, was sie gewünscht, Vergnügungen, keine Sorgen. Sie kann tun und lassen, was sie will.“

      Veldten lächelte fein:

      „Vielleicht ist es gerade das, Herr Geheimrat, dass Fräulein Annelore keinerlei Sorgen hat. Oder besser gesagt, keine Pflichten. Ich glaube, sie fühlt sich zwecklos auf der Welt.


Скачать книгу