Sieger über das Dunkel. Liane Sanden

Sieger über das Dunkel - Liane Sanden


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      *

      Geheimrat Werffen schob seufzend die Berichte und Zusammenstellungen zurück. Müde nahm er die Brille ab, legte sie sorgsam auf ihren Platz auf dem grossen Schreibtisch. Das Ergebnis seiner Prüfung war recht wenig zufriedenstellend. Sollte man wirklich zu Betriebseinschränkungen, zu Arbeiterentlassungen schreiten? Es war sein Stolz gewesen, dass er sein Werk langsam, aber stetig hatte entwickeln können. Seit einiger Zeit gingen die Umsätze zurück. Es lag nicht an der Krise. Farben wurden nach wie vor gebraucht. Aber andere, jüngere Kräfte, eine Gesellschaft mit grossem ausländischem Kapital drohte, den Markt an sich zu reissen. Die rote Lampe an der Aussentür, die jedem Werksangehörigen sagte „Eintritt verboten“, brannte. Dennoch klopfte es. Erstaunt blickte der Geheimrat zur Tür. Wer klopfte da so ungestüm, als hätte er das Recht, sich darüber einfach hinwegzusetzen? Jetzt wurde die Tür ohne weiteres aufgerissen. Ärgerlich erhob sich der Geheimrat. Aber seine Züge milderten sich, als er seinen Neffen, den Chefchemiker des Werkes, erkannte.

      „Was gibt es so wichtiges, Gerhard, dass du mich so überfällst?“

      „Onkel, ich muss dich sofort sprechen! Ich hab es! Hier, sieh her. Die neuen Proben! Ein glänzendes Resultat! Das macht uns so leicht keiner nach.“

      Der grosse, schlanke Mensch, dem Freude und Stolz aus den Augen leuchteten, war vor Aufregung rot. Erstaunt betrachtete ihn der Geheimrat. Diese Lebhaftigkeit war er an Gerhard gar nicht gewöhnt. Gerhard war ihm mit seinen 32 Jahren oft viel zu ernst erschienen. Und es war ihm immer ein Rätsel gewesen, dass sein Wildfang, seine Annelore sich so schnell an den ernsten Vetter angeschlossen hatte. Dabei war Gerhard dem Mädel gegenüber keineswegs ein bequemer, nachgiebiger Vertrauter gewesen. Aber seine verwöhnte Einzige, der man schon um ihrer Mutterlosigkeit willen von früh auf so manches nachgesehen hatte, und die so überempfindlich und leicht scheu war, wenn ihr jemand nicht den Willen liess, mit Gerhard hatte sie vom ersten Tage eine Ausnahme gemacht. Wenn Gerhard etwas getadelt hatte, dann konnte man sicher sein, dass Annelore sich danach richtete. Es war manchmal eigenartig, die beiden zu beobachten. Annelore, die in ihrer jugendlichen Lebhaftigkeit Gerhard immer mit fortreissen wollte, und der über seine Jahre ruhige, gesetzte Gerhard, an dessen Ruhe diese Versuche wirkungslos abprallten. Dr. Gerhard Hessenbrock hatte inzwischen, immer noch mit dem Ausdruck einer bei ihm ganz ungewohnt wirkenden Lebhaftigkeit eine Anzahl Stoffproben auf dem Schreibtisch ausgebreitet und dann die mitgebrachten Papiere geordnet. Nun wandte er sich mit scherzhafter Feierlichkeit an Geheimrat Werffen:

      „Gestatten Sie, Herr Geheimrat, dass ich Ihnen einen kurzen Vortrag halte über die ohne Ihr Wissen in Ihrem Laboratorium gemachten Versuche mit lichtechten Farbstoffen. Hier sind die Stoffe in allen Farbtönungen, die mit dem neuen Farbstoff gefärbt sind. Hier“, er überreichte dem Onkel eine Anzahl Aufstellungen, „die Belichtungstabellen. Hier eine Aufstellung der Herstellungskosten, ausserordentlich niedrig. Hier Probe und Gegenprobe der Belichtungseffekte der Konkurrenzfarben. Wo sich bei den andern Farbmitteln bei den empfindlichsten Tönungen, bei bleu und lila schon Bleicheffekte zeigen, bleiben die mit unsrem neuen Mittel gefärbten Gegenproben noch vollkommen lichtecht. Und das Wichtigste: wir sind bei der von mir ausprobierten Herstellungsart vollkommen unabhängig vom Ausland. Alle Bestandteile für die Fabrikation sind in Deutschland zu haben. „Herr Geheimrat“, Gerhard verbeugte sich scherzhaft, „gestatten Sie mir, Ihnen zu dem neuen Aufschwung der Werffen-Werke Glück zu wünschen. Wenn Ihr Chefchemiker sich nicht gründlich täuscht — und das glaube ich nicht — schlagen wir auf Jahre hinaus mit diesen Farben alle konkurrierenden Werke, selbst die allmächtige Farbstoff-Gesellschaft aus dem Felde.“

      Jede Spur von Müdigkeit war aus den Zügen des Geheimrats Werffen gewichen. Stück für Stück prüfte er jede der neuen Farben sorgsam, hielt sie unter die Tageslichtlampe, betrachtete sie mit einem starken Vergrösserungsglas und untersuchte in gleicher Weise die Gegenproben. Nach einem kurzen Blick auf die Belichtungstabellen sah er zu Gerhard auf, der ruhig abwartend seinen Untersuchungen zusah.

      „Bist du dir darüber klar, dass dir hier ein ganz grosser Wurf gelungen ist? Und du Geheimniskrämer hast mir nichts von deinen Versuchen gesagt?“

      „Ich wollte schweigen, Onkel, bis ich meiner Sache ganz sicher war. Du hast in den letzten Monaten Sorgen und Enttäuschungen zur Genüge gehabt. Glückte es, und es ist ja gottlob geglückt, dann war es noch immer Zeit. Aber die Enttäuschung eines Fehlschlages wollte ich dir ersparen.“

      Bewegt schüttelte Geheimrat Werffen seinem Neffen die Hand:

      „Ich danke dir, Gerhard. Es ist in den letzten Monaten wirklich manches schief gegangen. Aber nun haben die Werffen-Werke wieder neuen Auftrieb. Nochmals Dank, mein Junge, du sollst dabei nicht zu kurz kommen. Wir wollen jetzt einmal die chemischen Formeln zusammen durcharbeiten.“

      Fast zwei Stunden dauerte die Unterredung. Dann erhob sich Geheimrat Werffen:

      „Genug für heute, Gerhard. Es ist ein grosser Erfolg, den du erreicht hast. Zum Abendessen bist du heut doch bei uns? Vielleicht sprechen wir dann noch über einiges.“

      „Ich wollte zwar heute noch einen weiteren Versuch machen, Onkel. Die Farben machen mir viel zu schaffen.“

      „Ist das der einzige Grund? Oder hast du dich mit Annelore gezankt? Das Mädel kommt mir seit einiger Zeit etwas still vor.“

      „Kein Gedanke, Onkel. Und gezankt schon gar nicht. Dazu kommt es bei mir nicht so leicht. Ist etwas Besonderes mit Annelore?“

      „Das nicht. Aber sie ist jetzt recht still. Erst dachte ich, du hättest ihr eine Standpauke gehalten. Also das ist es nicht. Nun, mit jungen Mädchen ist das so ’ne Sache. Man weiss da nie recht Bescheid. Die Mutter fehlt eben. Wird schon nichts weiter sein. — Also um 8 Uhr, Gerhard.“

      Damit schüttelte Geheimrat Werffen seinem Neffen die Hand und ging nach der Wohnung. Die lag dicht neben dem Werk in einem schönen Garten, den Werffen beim Bau hatte anlegen lassen. Seine Frau hatte es gewünscht. Sie liebte Sonne und Licht. Lange hatte sie sich nicht am Garten freuen können. Eine tückische Erkrankung hatte sie fortgerafft, viel zu früh für die lebensfrohe Frau. Viel zu zeitig aber auch für Werffen und vor allem für die kleine Annelore, die damals erst zehn Jahre alt war. Geheimrat Werffen hatte es nicht leicht gehabt mit der Kleinen. Gegen jede Hausdame, die an der Verwaisten Mutterstelle vertreten sollte, gegen jede Erzieherin hatte das Kind revoltiert. Und der Geheimrat hatte seinem Liebling nachgegeben. Immer wieder, bis er schliesslich alle derartigen Versuche aufgab. Annelore hatte sich zu einem schönen klugen Mädchen entwickelt. Aber eigenwillig war sie geblieben. Und für ihre Jugend zu verschlossen gegen Fremde. Nun, das legte sich vielleicht später, wenn ihr Herz einmal sprechen würde. Der Geheimrat überlegte: wie alt war das Mädel jetzt? Siebzehn? Da hatte er ja bald eine heiratsfähige Tochter! Aber heutzutage hatten die Mädels es damit nicht so eilig. Glücklicherweise, denn Werffen wünschte sehnlich, seinen Liebling noch recht lange bei sich behalten zu können.

      Gerhard Hessenbrock war nach der Unterredung mit seinem Onkel noch einmal ins Laboratorium zurückgegangen. Am liebsten hätte er sich noch einmal in seine Arbeit vertieft. Aber er fühlte jetzt, nachdem der entscheidende Erfolg errungen, doch plötzlich die Abspannung nach der rastlosen Arbeit der letzten Wochen. Die Tage hatten nicht mehr ausgereicht. Nein, zuletzt hatte er auch noch die Nächte zu Hilfe genommen. Das Entdeckerfieber hatte ihn so gepackt, dass er von seinen chemischen Versuchen nicht mehr loskam. Jetzt fühlte er einen starken Druck über den Schläfen. Wieviel Tage war er eigentlich schon nicht herausgekommen? Er öffnete das Fenster. Eine milde Herbstluft kam ihm entgegen. In der Luft lag jener eigentümlich bläuliche, matte Schimmer, der die letzten schönen Tage begleitet. Gerhard Hessenbrock empfand Sehnsucht, einmal etwas anderes zu sehen als die Wände seines Laboratoriums, und etwas anderes zu atmen als die scharfe chemikaliendurchtränkte Luft seiner Arbeitsstätte. Man musste auch einmal eine Pause machen, vor allem wenn man heute abend frisch sein wollte. Und das musste er. Sein Onkel würde sicher wieder einen ganzen Zettel voll Fragen bereithalten. Er kannte die übergründliche Art des verehrten Mannes. Und Annelore war schliesslich nicht auch ganz bequem. Sie hatte ihn, Gerhard, in die Rolle des lieben Gottes hineinmanövriert, der alles und jedes wissen musste, was ihr junges Mädchengemüt bewegte. Das war für den Arbeitsüberlasteten oft nicht ganz leicht.


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