Sieger über das Dunkel. Liane Sanden
Villen zeigte die vielfarbigen Tönungen von Grün über Gelb zu blendendem Rot und Goldbraun. Hessenbrock fühlte, wie dies ruhige Wandern und Schauen Geist und Körper entspannte. Er mochte etwa zehn Minuten gegangen sein. Da liess ihn fröhliches Lachen aufblicken. Er blickte in das Gesicht seines Freundes Dr. Veldten und das seiner jungen Frau. Beinahe wäre er in seinen Gedanken an den beiden vorübergegangen. Lachend hielt ihm die junge Frau Dr. Veldten die Hand zur Begrüssung entgegen:
„Dass Sie Ihre Freunde schneiden, Gerhard, haben wir an Ihrem Ausbleiben leider schon gemerkt. Fritz wollte Sie schon aufsuchen, um zu hören, was los ist. Aber, dass Sie an uns vorbeilaufen, das lassen wir uns doch nicht gefallen.“
„Gnade für einen reuigen Sünder“, antwortete Gerhard, „muss ich erst versichern, dass ich Sie wirklich nicht gesehen habe?“
„Nein, das brauchen Sie nicht“, sagte Dr. Veldten, ihm gleichfalls die Hand schüttelnd. „Aber warum Sie sich so lange nicht haben sehen lassen, das würde ich gern hören.“
„Arbeit, Arbeit! Ich habe ein neues Verfahren für Farbstoffe ausgearbeitet. Ich erzähle nächstens ausführlich darüber. Heut darf man noch nicht recht davon sprechen.“
„Haben Sie dabei auch rote Farbtönungen, Gerhard?“, fragte Brigitte Veldten dazwischen.
„Ja, sogar ein sehr schönes Rot. Seit wann aber interessieren Sie sich für chemische Zusammenstellungen, Frau Brigitte?“
„Ich wollte Ihnen nur empfehlen, etwas von Ihrem Rot aufzulegen, Gerhard. Sie sehen gar nicht gut aus. Wenn Fritz Ihnen nichts anderes verordnet, dann können Sie es ja mal damit versuchen.“
„Brigitte hat recht, Sie sehen blass und abgearbeitet aus. Ich muss da als Arzt entschieden eingreifen. Die Behandlungsmethode meiner Frau scheint mir nicht recht geeignet. Sind Sie heut abend frei? Dann kommen Sie zu uns.“
„Nein, heut geht es leider nicht. Ich bin abends beim Onkel. Aber ich sage mich bestimmt bald an.“
„Also auf bald, wir müssen hier rechts abbiegen.“
Im Vorgarten der Villa des Geheimrats Werffen begegnete Gerhard seiner Kusine Annelore, die eine Freundin bis zur Gartenpforte begleitete. Die jungen Mädchen hatten offenbar wichtige Dinge zu erörtern. Eng aneinandergeschmiegt — die Freundin hatte ihren Arm um Annelos Schulter gelegt — gaben die beiden ein nettes Bild. Annelore war eine schlanke, graziöse Figur mit leuchtenden, hellbraunen Augen unter dem tiefdunklen, schwarzen Haar, das gut zu der hellen Haut wirkte, wie man sie sonst meist bei Blondinen findet. Neben ihr die Freundin im weissen Strickkleid mit lachenden blauen Augen und strohblondem Haar: kleiner, untersetzt und zu ihrem grossen Leidwesen etwas zur Fülle neigend. Es war Annelores beste Freundin, der Gerhard bei früheren Besuchen schon öfter begegnet war. Annelore hatte Gerhard sonst immer gern in ein lustiges Wortgeplänkel verwickelt. Aber heute hatten die beiden offenbar dazu keine Zeit. Nach wenigen Worten der Begrüssung ging Gerhard in den Gartensaal, wo Geheimrat Werffen mit einer Zigarette schon wartete:
„Ich habe da eben von meinem Freunde Mühlensiefen aus Essen einen Brief bekommen. Er möchte seinen Sohn, der sich im Ausland etwas umgesehen hat, gern ein paar Monate bei uns arbeiten lassen, damit er sich wieder in einem deutschen Betrieb einlebt. Ganz recht ist mir das nicht. Ich kann es aber einem so guten Freunde schlecht abschlagen. Mühlensiefen hat mir mal ziemlich eingehend sein Leid geklagt. Der Sohn scheint ein leichtsinniger Mensch zu sein. Das Geld des Vaters ist ihm zu Kopf gestiegen, und er soll ein recht wüstes Leben geführt haben. Der Alte ist aber so kränklich, dass er jetzt dringend die Rückkehr des Sohnes verlangte. Er hat Sorge, dass der junge Mensch eines Tages plötzlich ohne genügende Vorbereitung die Firma übernehmen muss.“
„Es muss dir doch ganz erwünscht sein, Onkel, zu dem zukünftigen Inhaber dieses grossen Hauses ebenso gute Beziehungen zu haben, wie zum Seniorchef.“
Der Geheimrat lächelte skeptisch: „Erst abwarten, wie der Junge sich stellt. Jedenfalls, ich muss zusagen.“
Annelore Werffen hatte ihre Freundin bis zum Gartentor begleitet. Sie winkte ihr mit heiterm Gesicht zu und sah der kleinen weissen Gestalt nach. In dem Augenblick, in dem sie allein war, veränderte sich Annelores eben noch so heiteres Gesicht. Es bekam einen grüblerischen, schmerzlichen Ausdruck. Sie blieb stehen, sah wie abwesend vor sich hin. Mechanisch glitt ihre Hand über eine wundervolle Rose, die, als letzte Spätsommerblüte, tief dunkelrot, an dem kräftigen Stamm prangte. Unter der Berührung aber entblätterte sie sich schon. Leise segelten die blutroten Blätter zur Erde hernieder.
„Herbst“, sagte Annelore zu sich selbst, „Herbst und wieder Einsamkeit.“
Sie seufzte auf. Dann strich sie sich energisch mit der Hand über das Gesicht. Und als sie jetzt zur Gartentreppe herauskam, wo sie ihren Vater und ihren Vetter Gerhard in lebhaftem Gespräch im Gartensaal traf, hatte das Gesicht wieder das Heitere und Sorglose.
„Wem willst du zusagen, Vater?“ fragte sie, die letzten Worte von dessen Gespräch aufnehmend.
„Ach, ich spreche nur von dem jungen Mühlensiefen, der auf Bitten seines Vaters einige Monate im Werk arbeiten soll. Er war ein paar Jahre im Ausland und soll sich jetzt in einem deutschen Betrieb etwas umsehen.“
„Kennst du ihn denn, Pa? Ist er nett?“
„Mein Geschmack ist er nicht, Kleines. Übrigens, er wird ja natürlich bei uns Besuch machen. Da kannst du selbst urteilen. Aber ich möchte nicht über den notwendigen offiziellen Verkehr hinausgehen.“
„Bist du nicht ein wenig voreingenommen, Pa? Es sind nun doch mal nicht alle solche Mustermenschen wie du und Gerhard.“
Der hatte bisher schweigend dem Zwiegespräch zugehört. Jetzt fragte er mit leichtem Auflachen:
„Mustermensch? Warum bist du denn so herzerfrischend ironisch, Annelore? Es klang doch reichlich spöttisch.“
„Bitte sehr, Gerhard! Meinst du, dass ich Pa verspotte? Ich habe doch auch von ihm gesprochen.“
„Aber nur, um mir dabei eins zu versetzen, Annelore. Womit hab ich mir deine Ungnade zugezogen?“
„Ungnade? Dazu hast du ja gar keine Gelegenheit gegeben. Seit Wochen sieht man dich ja überhaupt kaum. Schliesslich kann ich doch nicht mehr wie früher zu dir ins Laboratorium laufen, wenn ich mal was erzählen möchte! Und dann hast du womöglich noch nicht mal Zeit.“
„Mach dem Gerhard keine Vorwürfe, Kind. Der hat in den letzten Wochen wirklich sehr viel zu arbeiten gehabt. Und hat dabei etwas gefunden, das für die Zukunft des Werkes von sehr, sehr grosser Bedeutung werden kann.“
„Ja, ja, Pa“, lachte Annelore auf, „etwas, das dir noch soundso viel jährlich mehr einbringt. Ich weiss schon. Ist das denn wirklich so wichtig, dass man die Menschen dabei vergisst? Das ist doch auch nur eine Art Sport! Ob du noch mehr verdienst oder nicht, darauf kommt es doch wirklich nicht so an. Wir haben doch zu leben. Viel mehr als tausend andere. Wozu muss es denn noch mehr werden!“
„Aber Annelo! Erstens überschätzt du das und dann, die Arbeiter müssen doch auch beschäftigt werden. Wenn sie keine Arbeit haben? Wovon sollen sie dann leben?“
„Ach, Pa, das mag schon alles ganz richtig sein. Dass deine Arbeiter nicht hungern, dafür sorgst du schon. Aber ich hungere manchmal“, sie fügte das letzte leiser hinzu.
„Nanu, Kind, du hast doch einen ganz gesegneten Appetit und bekommst wohl auch genug zu essen?“
Gerhard hatte beinahe erschreckt zu Annelore aufgeblickt. Wie ernst hatten ihre Worte geklungen:
„Onkel, so meint Annelore es offenbar nicht. Du hast recht, Annelore, ich hätte mich trotz der Arbeit für dich freimachen sollen. Ich verspreche auch Besserung. Wollen wir morgen wieder einmal einen Spaziergang machen wie früher, Annelore?“
„Du vergisst es ja doch wieder, Gerhard“, sagte Annelore mit gerunzelten Brauen, „wenn man mal einen Schwatz machen will, das kann man dann nicht wie zu einer Schulstunde aufsparen. Aber, nun zu Tisch! Anna wartet schon verzweifelt.“